Engelsrache: Thriller
warf noch weit verzwicktere Fragen auf. Die durchschnittliche Frau in Washington County, Tennessee, war gottesfürchtig und konservativ. Agent Landers würde diesen konservativen Frauen berichten, dass Angel von zu Hause weggelaufen war und in einem Strip-Club gearbeitet hatte, wenn auch bloß für kurze Zeit. Und dann würde er aussagen, dass Angel Christian in Wahrheit ganz anders hieß und dass es ihm nicht gelungen sei, etwas über ihr Vorleben in Erfahrung zu bringen. Das allein würde schon ausreichen, um etliche der Frauen gegen Angel einzunehmen. Erschwerend kam noch das Thema Eifersucht hinzu. Sollten die weiblichen Geschworenen zu der Auffassung gelangen, dass Angel sich selbst für schön hielt oder darauf aus war, die Männer durch ihre Schönheit für sich einzunehmen, konnten wir gleich einpacken.
Caroline hatte Angels Garderobe und Make-up ausgewählt. Als meine Mandantin an diesem Morgen in den Gerichtssaal geführt wurde, war ich meiner Frau dankbar für ihr Geschick. Der schwarze Hosenanzug und die cremefarbene Bluse waren beides zugleich: konservativ und elegant, weit genug geschnitten, um die Figur des Mädchens zu verbergen, aber alles andere als spießig. Außerdem trug Angel schwarze Schuhe mit flachen Absätzen und hatte das Haar nach hinten gebunden. Der nur ganz zart aufgetragene Lidstrich brachte ihre herrlichen braunen Augen wundervoll zur Geltung. Im Übrigen war sie ungeschminkt und trug auch keinen Schmuck. Sie sah aus wie eine wunderschöne ängstliche College-Studentin. Absolut perfekt.
Als Richter Green mich den potentiellen Geschworenen vorstellte, nickte ich und sah die Leute mit einem freundlichen Lächeln an. Dann hielt ich diskret Ausschau nach Tester junior, doch der war nirgends zu sehen. Ich stellte Angel vor und legte ihr dabei die Hand auf die Schulter. Die Geschworenen sollten sehen, dass ich keine Scheu hatte, sie zu berühren, dass ich mich ihr verbunden fühlte und an sie glaubte. Angel nickte und lächelte genau so, wie ich es ihr geraten hatte.
Richter Green eröffnete das Verfahren zur Auswahl der Geschworenen, und ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl. Green hatte vor sich auf dem Tisch einen Stapel mit Kärtchen, aus dem er willkürlich einen Namen herauszog.
»Lucille Benton«, sagte er.
In der Mitte des überfüllten Zuschauerraums erhob sich eine Dame in einem Jeansanzug.
»Hier«, sagte sie und hob die Hand.
»Treten Sie doch bitte nach vorn«, sagte Richter Green wie der Moderator einer Fernsehshow. »Woher kommen Sie?«
»Aus Limestone«, entgegnete die Frau, während sie zur Geschworenenbank ging.
»Ah, Limestone, eine sehr hübsche kleine Gemeinde. Und – alles in Ordnung in Limestone an diesem schönen Morgen, Ms Benton?«
Ich war stinksauer. Da saß ich nun neben einer Frau, die des Mordes angeklagt war, und Richter Green hatte nichts Besseres zu tun, als sich wie üblich schamlos bei den Geschworenen anzubiedern. Während er die ersten dreizehn Kandidaten auf die Geschworenenbank komplimentierte und weitere sieben aufforderte, im Zuschauerraum direkt hinter der Schranke in der ersten Reihe Platz zu nehmen, machte ich mir Notizen. Nachdem sich Green eine halbe Stunde wichtig gemacht hatte, hörte ich endlich die Worte, auf die ich schon lange gewartet hatte.
»Mr Martin, Sie können jetzt die Geschworenen befragen.«
Frankie Martin stand auf, zog seinen Schlips gerade und begab sich zu dem Podest. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich in einem Mordprozess direkt an die Geschworenen wandte. Bisher hatte er die Anklageseite nur in normalen Strafprozessen vor Gericht vertreten. Aber er war ein gut aussehender, sprachgewandter junger Mann und trat sehr selbstbewusst auf. Außerdem ging es in dem Verfahren um seinen Job bei der Staatsanwaltschaft. Dass Deacon Baker nicht anwesend war, konnte nur eines bedeuten: Er hielt den Prozess bereits für verloren. Martin war Bakers Sündenbock. Falls der junge Mann den Prozess verlor, konnte er sich schon in wenigen Tagen mit belanglosen Scheidungssachen herumschlagen.
Ich flüsterte Angel zu: »Sie müssen sich die Geschworenen sehr aufmerksam anschauen. Wenn Sie gegen einen von ihnen Vorbehalte haben, müssen Sie mir das sagen.«
Sie nickte. Caroline hatte ihr offenbar Parfum mitgebracht. Sie duftete wie ein Fliederstrauch.
Martin brauchte ungefähr eine Stunde für die Vorabbefragung der potentiellen Geschworenen. Er trat sehr höflich und gewandt auf und vermied sämtliche Fehler, die
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