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Engelsrache: Thriller

Engelsrache: Thriller

Titel: Engelsrache: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Pratt , Christian Quatmann
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sagte sie. »Was habe ich nur falsch gemacht?«
    »Es bringt überhaupt nichts, wenn du dir Vorwürfe machst. Sie ist nun mal, wie sie ist. Das ist nicht dein Fehler.«
    »Am besten, ihr bringt erst mal eure Wertsachen in Sicherheit, Joey. Die räumt euch das ganze Haus leer, wenn ihr nicht aufpasst.«
    »Sarah würde mich doch nicht bestehlen, Ma.« Tatsächlich hatte Sarah mich früher schon mal bestohlen, aber davon hatte ich Ma nie etwas erzählt.
    »Na ja, mich hat sie jedenfalls schon häufig bestohlen.«
    »Vielleicht hat sie sich ja geändert. Du hast so traurig ausgesehen, als ich gerade hereingekommen bin. Was ist denn los?«
    »Ich habe gerade an Raymond gedacht.« Sie nahm aus der Schachtel auf dem Nachttisch ein Kleenex und betupfte sich die Augen. Raymond war Mas jüngerer Bruder gewesen. Er war mit siebzehn Jahren ertrunken.
    »Was für ein Jammer.«
    »Nein, das stimmt nicht«, entfuhr es mir unwillkürlich. »Es gibt keinen Grund, seinen Tod zu betrauern, Ma. Reine Verschwendung.«
    »Joey, du hast noch nie ein freundliches Wort über deinen Onkel verloren. Was hat Raymond dir denn getan?«
    Ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht darüber reden wollte. Sie hatte schon seit Jahren nicht mehr von ihm gesprochen. »Er war kein anständiger Mensch.«
    »Er hätte bloß …«
    »Ma, kannst du bitte aufhören, von Raymond zu sprechen? Du weißt doch, dass wir in diesem Punkt unterschiedlicher Meinung sind.«
    Ich spürte den Impuls, ihr zu erklären, wie ich zu meiner Meinung gelangt war, doch dann konnte ich darin keinen Sinn erkennen. Das war alles schon so lange her, und meine Mutter hatte ohnehin nicht mehr lange zu leben. Ich wollte ihr nicht die wenigen angenehmen Erinnerungen nehmen, die ihr von ihrem Bruder geblieben waren.
    Es gelang mir, sie von Raymond abzulenken und mit ihr eine Weile über die Baseball-Erfolge meines Sohnes Jack zu sprechen, doch dann sah sie mich plötzlich an, als ob sie mich noch nie zuvor gesehen hätte.
    »Was machen Sie hier?«, fragte sie. »Wer sind Sie?« Das ging so blitzschnell, als ob jemand in ihr einen Schalter umgelegt hätte. Selbst der Tonfall ihrer Stimme veränderte sich.
    »Ich bin es doch, Ma. Joe. Dein Sohn.«
    »Wieso trägst du eigentlich diesen Schlips? Bist du etwa ein großes Tier oder so was?«
    »Nein, Ma. Ich bin kein großes Tier.«
    »Wo ist Raymond?«
    »Raymond ist tot.«
    Sie seufzte lange und vernehmlich und starrte dann zur Decke hinauf.
    »Ma? Hörst du mich?«
    Sie sagte nichts, lag reglos, fast katatonisch da. Ich warf einen Blick auf den Nachttisch neben ihr. Obenauf standen mehrere Fotos unserer zerrissenen Familie. Auf einem der Bilder war mein Großvater zu sehen, der einen Blaumann trug und in einem Maisfeld hinter einem Maultier herging. Dann gab es noch ein gerahmtes Foto, auf dem zu sehen war, wie ich nach bestandenem juristischem Examen auf der Bühne mein Abschlusszeugnis entgegennahm. Daneben wieder ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto, auf dem Sarah und ich im Alter von sieben und acht Jahren festgehalten waren. Wir standen, bis über beide Ohren grinsend, hinter dem Haus unserer Großeltern auf einigen wackeligen Planken mitten in einem Teich. Ich hatte vorn eine große Zahnlücke.
    Unmittelbar rechts von diesem Bild war ein etwas größeres Foto, auf dem Onkel Raymond ungefähr sechs Monate vor seinem Tod abgebildet war. Er war damals siebzehn Jahre alt gewesen und stand neben einer aufgebrochenen Hirschkuh, die an einem Ast hing. Er hielt in der linken Hand ein Gewehr, in der rechten eine Zigarette. Ich ging zum Nachttisch, nahm das Foto in die Hand, betrachtete es einige Sekunden und drehte mich dann wieder in Mas Richtung. Sie lag immer noch dort und starrte zur Decke hinauf.
    »Hörst du mich?«, sagte ich.
    Nichts.
    Ich setzte mich wieder auf den Stuhl neben dem Bett und öffnete den Bilderrahmen. Ich löste die Klammern auf der Rückseite, zog das Foto heraus und zerriss es in tausend Stücke.
    »Ich möchte dir zwar nicht wehtun, Ma, aber ich werde Raymond jetzt dorthin befördern, wo er hingehört.« Ich ging ins Bad, warf die Papierschnipsel in die Toilette, betätigte die Spülung und beobachtete, wie die Schnipsel zunächst im Kreis in der Schüssel herumsausten und dann verschwanden.
    Dann ging ich zu Mas Bett und setzte mich wieder. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und versuchte, mich wieder zu beruhigen, während mir Raymonds Name noch immer in den Ohren klang. Schließlich drückte ich den Rücken

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