Engelsrache: Thriller
geordnet in einem feuersicheren Safe in einem kleinen Lagerhaus am Stadtrand. Virgil gehörte zufällig zu den Leuten, die Gus mehrmals gefilmt hatte. Da er so ein gutmütiger kleiner Mann war, fand Erlene, dass er für ihr Vorhaben genau der Richtige war.
Außer den beiden war niemand im Club. Erlene ging voraus und führte Virgil durch den Gang nach hinten in den Umkleideraum der Mädchen. Neben der Garderobe gab es noch einen Aufenthaltsraum mit einem Fernseher, auf dem sich auch Videos abspielen ließen. Das Video, das Erlene Virgil zeigen wollte, hatte sie bereits eingelegt. Sie stellte ihm einen Stuhl direkt vor den Fernseher.
»Jetzt machen Sie es sich erst mal bequem«, sagte Erlene. »Ich habe da was ganz Besonderes, was ich Ihnen gerne zeigen möchte.«
Virgil setzte sich, und Erlene nahm neben ihm Platz. Sie legte ihm eine Hand auf das Knie, mit der anderen richtete sie die Fernbedienung auf das Gerät.
Der Bildschirm wurde zuerst hell, dann war der nackte Virgil zu erkennen, der an seinem Daumen lutschte und einige Mädchen mit schweinischen Bemerkungen bedachte. Erlene tätschelte unbeirrt Virgils Knie, während er auf dem Bildschirm ein paar Dinge tat, die ihm vermutlich etwas peinlich waren. Nach wenigen Minuten bat er sie, das Gerät auszuschalten. Dann sah er sie mit dem bedauernswertesten Gesichtsausdruck an, den sie je gesehen hatte.
»Unfassbar, dass Sie mir so etwas antun, Erlene«, sagte Virgil. »Nach all den Jahren und nach dem vielen Geld, das ich hier gelassen habe, einfach unfassbar.«
»Wissen Sie was, Süßer?«, sagte Erlene. »Ich habe nicht die geringste Absicht, Ihnen irgendwas Böses anzutun.«
»Und weshalb zeigen Sie mir dann diese Bilder?«
»Weil ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten möchte, sonst nichts. Und wenn Sie mir diesen kleinen Gefallen tun, dann schwöre ich bei meinem verstorbenen Mann, dass ich Ihnen jedes einzelne Videoband aushändige, das Gus je von Ihnen gemacht hat.«
Erlene beobachtete Virgil aufmerksam, während sie ihm ihr Anliegen unterbreitete. Zunächst schien er unschlüssig, doch je länger Erlene sprach, je intensiver sie die Innenseite seines Oberschenkels bearbeitete, umso deutlicher schien er sich zu entspannen. Schließlich erklärte er sich bereit, Er-lene den gewünschten Gefallen zu tun.
Ein echter Goldschatz.
15. Juni
6:00 Uhr
Ich saß morgens am Frühstückstisch und las die Zeitung. Gerade dachte ich daran, dass meine Tochter abends einen Tanzauftritt hatte, den ich unbedingt sehen wollte, da kam Caroline völlig verschlafen in die Küche und rieb sich die Augen.
»Ich muss dir was sagen«, murmelte sie. Ich ließ die Zeitung sinken.
»Klingt nicht gut.«
»Allerdings bin ich mir nicht sicher. Aber ich habe gestern Nachmittag einen silberfarbenen Pick-up gesehen, ich meine, so einen Wagen wie den, der dich fast überfahren hätte. Er ist zweimal am Haus vorbeigefahren. Als ich später aus dem Lebensmittelladen gekommen bin, stand der Wagen direkt neben meinem, aber ich konnte den Fahrer durch die getönten Scheiben nicht erkennen.«
»Das hättest du mir doch schon gestern sagen können.«
»Gestern war ich die ganze Zeit damit beschäftigt, Lilly auf ihren Auftritt heute vorzubereiten. Und als ich abends nach Hause gekommen bin, hast du schon geschlafen. Zuerst wollte ich dich wecken, aber dann habe ich gedacht, dass die Sache auch bis heute Morgen Zeit hat. Tut mir leid.«
»Das kann nur Testers Sohn gewesen sein, du weißt schon, der Kerl, der im Gerichtssaal so ausgerastet ist.«
»Aber warum, Joe? Warum sollte der Mann uns was antun wollen? Du bist doch bloß ein Anwalt, der seine Arbeit macht.«
»Du hättest ihn mal bei Gericht sehen sollen. Der Kerl ist nicht ganz dicht.«
»Und was sollen wir jetzt machen?«
»Viel können wir nicht tun. Wenn du ihn noch mal siehst, ruf die Polizei an, und sag denen, was sich hier abspielt. Vielleicht erteilen sie ihm ja einen Verweis. Und Lilly soll sich unbedingt vor ihm in Acht nehmen. Am besten, du zeigst ihr ein Foto von einem Dodge-Pick-up, damit sie weiß, wie so eine Kiste aussieht.«
Als ich mit der Zeitung fertig war, fuhr ich nach Johnson City und quälte mich eine Stunde im Fitnessstudio. Dann fuhr ich nach Unicoi County, um Randall Finch zu verteidigen, dem die Todesstrafe drohte. Randall war fünfundzwanzig Jahre alt, ein völlig ungebildeter Prolet, der den dreizehn Monate alten Sohn seiner Freundin im Drogenrausch umgebracht hatte. Vorher hatten sich Randall
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