Engelsrache: Thriller
den Schultern aufgebauscht war und sich bei jeder Drehung zu einem weiten Kreis öffnete. Die Quarzsteinchen, die an dem Kostüm befestigt waren, glitzerten im Licht der blauen und goldenen Scheinwerfer. Lillys langes kastanienbraunes Haar war hinten zusammengerafft, und so schwebte sie wie von einer Wolke getragen über die Bühne. Ich war erstaunt, wie viel sie in dem halben Jahr dazugelernt hatte, seit ich sie zuletzt hatte tanzen sehen. Nicht minder erstaunt war ich über ihre körperliche Entwicklung. Sie war inzwischen kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau, eine wunderschöne, hoch-begabte junge Frau.
Mir wurde ganz warm ums Herz, als ich wieder mal mit eigenen Augen sah, was meine Tochter mit ihrem Körper alles auszudrücken vermochte. Sie verstand es, noch die subtilsten Nuancen der Musik mit ihren langen Armen und ihren schlanken Händen in Bewegungen umzusetzen, und die Beweglichkeit und die Kraft ihrer langen Beine zeugten von der harten Arbeit und dem großen Einsatz, den das Tanzen verlangt. Als die Musik lauter wurde, erschien ein verzaubertes Lächeln auf meinem Gesicht. So ein hübsches, so ein reines Mädchen. Mein Alltag war von Grausamkeit, Bosheit und Hässlichkeit erfüllt. Was ich hier sah, ging mir so nahe, dass mir ganz beklommen zumute war und ich kaum noch Luft bekam. Ich ließ die Textzeilen des Songs auf mich wirken, verstand plötzlich, was Caroline gemeint hatte. In dem Lied ging es um eine junge Frau, die von Schuldgefühlen verfolgt wird, weil ihr Vater sie sexuell missbraucht hat.
Dann trat Lilly von der Bühne ab, und ich ging rasch nach hinten und bat eine andere Tänzerin, meine Tochter aus der Garderobe zu holen. Kurz darauf erschien Lilly, und ich küsste sie auf die Wange.
»Danke, Liebes«, sagte ich, »das war unglaublich schön.«
»Alles in Ordnung, Daddy?«
»Ja, großartig«, sagte ich. »Mir geht es glänzend.«
»Bist du sicher?«
Sie erhob sich auf die Zehenspitzen, küsste mich auf die Wange und schmiegte sich an mich.
Dann flüsterte sie mir ins Ohr: »Das ist das erste Mal, dass ich dich weinen sehe.«
16. Juni
18:00 Uhr
Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich ganz auf das Verfahren konzentriert, das gegen Angel anhängig war, doch da war leider noch Maynard Bush. Außer ihm waren Angel und Randall Finch die einzigen mit der Todesstrafe bedrohten Mandanten, die ich vertrat.
Maynards Verteidigung hatte mir der Richter in Sullivan County aufs Auge gedrückt, und die Eröffnung des Hauptverfahrens rückte immer näher. Der Richter hatte mir zur Unterstützung den jungen Anwalt Timothy Walker II. aus Carter County zur Seite gestellt. Allerdings hatte sich bald herausgestellt, dass Walker mit dem persönlichen Umgang mit Maynard überfordert war. Ich konnte ihm das zwar nicht verdenken, aber die unangenehme Pflicht, den Mandanten hier und da im Gefängnis zu besuchen, blieb unter diesen Umständen ganz an mir hängen.
Maynard war einer der gefährlichsten und unheimlichsten Männer, die ich in meinem ganzen Berufsleben verteidigt hatte. Er hatte ein ellenlanges Vorstrafenregister und den größten Teil seines Erwachsenenlebens im Gefängnis verbracht. Der Mann war das reinste Raubtier. Unentwegt hielt er Ausschau nach Schwachstellen und ließ sich keine Chance entgehen, andere hereinzulegen. Deshalb war der Umgang mit ihm ein einziges Katz-und-Maus-Spiel. Das Problem war jedoch, dass Maynard und ich beide die Katze sein wollten. Das wiederum führte dazu, dass wir überhaupt nicht miteinander klarkamen.
Drei Wochen zuvor waren wir bei Gericht vorstellig geworden, um eine Gerichtsstandsänderung zu erwirken. Dabei hatte Maynard den Richter – und nicht zuletzt mich – mit der Auskunft überrascht, dass ich bei der Ausübung meines Mandats nicht die nötige Sorgfalt walten lasse. Allerdings wusste der Richter genau, dass Maynard das Verfahren nur verschleppen wollte. Deshalb teilte er dem Beschuldigten unumwunden mit, dass an meiner Arbeit nichts auszusetzen sei. Anschließend gab er unserem Antrag auf eine Änderung des Gerichtsstands statt. Das Hauptverfahren sollte im Juni in Mountain City eröffnet werden. Mir blieben also nur noch vier Wochen Zeit, um mich vorzubereiten, und Maynard machte nichts als Schwierigkeiten. Ich hatte ein rechtspsychiatrisches Gutachten beantragt, doch Maynard wollte nicht mit dem Psychiater sprechen. Außerdem hatte ich einen Ermittler beauftragt, nochmals mit sämtlichen Zeugen und Beteiligten zu reden und alle
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