Engelsrache: Thriller
Er erhebt keinen Einspruch gegen den Tatvorwurf.«
»So etwas habe ich ja noch nie gehört«, sagte Richter Glass, »dass ein Angeklagter seine Schuld bei der Eröffnung eines Hauptverfahrens einräumt, in dem die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe fordert.«
»In diesem Verfahren wird nicht über die Verhängung der Todesstrafe entschieden, Herr Richter«, sagte ich. »Ein entsprechender Antrag liegt nicht vor.«
Richter Glass sah mich verblüfft an. Er hatte inzwischen begriffen, worauf ich hinauswollte. Meine verfahrensrechtliche Trickserei schien ihn jedoch eher zu amüsieren als zu verärgern. Er sah den Anklagevertreter an.
»Was sagen Sie dazu, Mr Baker?«
Baker erhob sich mit hochrotem Kopf von seinem Stuhl.
»Das widerspricht allen Gepflogenheiten, Euer Ehren. Das kann die Verteidigung nicht machen.«
»Unsere Argumentation wird durch die Verfahrensvorschriften vollständig gedeckt«, sagte ich. »Diese Regeln gewähren dem Angeklagten in einem Strafprozess nämlich das Recht, sich bei der Anklageerhebung schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Wir haben uns für ein Geständnis entschieden. Mr Baker hat es bislang nicht für nötig gehalten, die Todesstrafe bei diesem Gericht schriftlich zu beantragen. Dazu hätte er reichlich Zeit gehabt. Stattdessen hat er seine diesbezügliche Absicht lieber in den Medien ausgebreitet.«
»Aber ich wollte dem Gericht den Antrag doch heute noch zustellen«, sagte Deacon mit fast weinerlicher Stim-me.
Glass fing an zu kichern und sah Randall an. »Mr Finch, verstehen Sie, was Ihr Verteidiger da gerade versucht?«
»Ja.«
»Hat Ihr Verteidiger Sie über die Folgen dieses Schritts hinreichend aufgeklärt?«
»Ja.«
»Wenn ich Ihr Geständnis zulasse, verzichten Sie auf Ihr von der Verfassung garantiertes Recht, dass Ihr Fall vor einem Geschworenengericht verhandelt wird. Sind Sie sich darüber im Klaren?«
»Ja.«
Richter Glass ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und fuhr sich mit den Fingern durch das schneeweiße Haar. Er dachte angestrengt nach. Nachdem einige Minuten verstrichen waren, beugte er sich wieder vor.
»Mr Dillard, ich nehme an, dass Sie augenblicklich Rechtsmittel einlegen, wenn ich mich weigere, dieses Geständnis zuzulassen.«
»So ist es, Herr Richter.«
»Und wenn ich das Geständnis zulasse, werden Sie das Gleiche tun, Mr Baker, nicht wahr?«
»Ganz genau.«
»Nun ja, wenn ich schon das Risiko eingehe, einen Fehler zu machen, dann erscheint es mir ratsam, größtmögliche Vorsicht walten zu lassen. Deshalb werde ich Mr Finchs Geständnis nicht zulassen. Legen Sie also Rechtsmittel ein, Mr Dillard. Mit der weiteren Terminplanung befassen wir uns, sobald wir wissen, was das Oberste Gericht zu diesem verfahrensrechtlichen Vorgehen zu sagen hat.«
»Vielen Dank, Herr Richter«, sagte ich. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt, mich mit ihm herumzustreiten. Außerdem hatte ich auch gar nicht erwartet, dass Richter Glass einem Kindsmörder die Todesstrafe so einfach erlassen würde. Mir genügte es schon, Deacon Bakers belämmertes Gesicht zu sehen. Ich erklärte Randall noch rasch, dass ich gegen diese Entscheidung unverzüglich Widerspruch einlegen würde. Dann wurde er von den Justizbeamten in seine Einzelzelle zurückgebracht. Die übrigen Häftlinge hatten dem Sheriff nämlich ausrichten lassen, dass Randall nicht mal eine Stunde überleben würde, sollte er sich unter seine Mitgefangenen mischen.
Lilly stand kurz vor dem Abschluss der Highschool. Das bedeutete, dass sie demnächst zu Hause ausziehen würde, und ich wusste, dass ihr heutiger Auftritt vielleicht die letzte Gelegenheit war, sie noch einmal tanzen zu sehen. Caroline hatte mir erzählt, dass es sich bei der Musik, zu der Lilly tanzen wollte, um einen Song über sexuellen Missbrauch handelte. Meine Frau hatte für unsere Tochter sogar eine eigene Choreographie entwickelt. Eigenartig, dachte ich, und das gerade zu einem Zeitpunkt, da ich durch Sarah und Angel ständig mit dem Thema konfrontiert bin.
Lilly tanzte zu dem Song »I’m OK« von Christian Aguilera. Sie hatte mit dem Tanzen angefangen, als sie gerade gehen konnte. Tatsächlich konnte sie fast alles – Akrobatik, Stepptanz, klassisches Ballett oder Jazztanz –, doch ihre größte Stärke war der lyrische Tanz. Mir gefielen vor allem ihre geschmeidigen Bewegungen, die athletischen Sprünge, die anmutigen Drehungen.
Meine Tochter trug ein einfaches langärmeliges, hochgeschlossenes weißes Kleid, das an
Weitere Kostenlose Bücher