Engelsrache: Thriller
Fakten zu prüfen. Als der Mann Maynard im Gefängnis aufsuchte, schickte der ihn zum Teufel. Genauso verfuhr er mit einem Experten, der den Fall auf mögliche Strafmilderungsgründe abklopfen sollte.
Ich hatte mich schon seit drei Wochen nicht mehr bei Maynard blicken lassen, zum Teil, weil ich sehr beschäftigt war, zum Teil aber auch, um ihn glauben zu machen, dass ich wegen der miesen Nummer, die er vor Gericht abgezogen hatte, beleidigt sei. Doch der eigentliche Grund, weshalb ich ihn nicht besucht hatte, war natürlich, dass ich in seiner Gegenwart eine Gänsehaut bekam. Kurz nach zwanzig Uhr wurde er im Gefängnis von Sullivan County von drei Aufsehern in das Anwaltszimmer geführt. Ich hatte zwar einen langen Tag hinter mir, wollte das Gespräch mit Maynard aber nicht länger aufschieben.
Maynard war ungefähr einsachtzig groß und wegen seines jahrelangen Metamphetamin- und Kokainmissbrauchs klapperdürr. Sein schulterlanges schwarzes Haar war in der Mitte gescheitelt, und er hatte einen glatten dunklen Teint. Seine Augen waren fast so schwarz wie sein Haar. Ich hatte ihn nie gefragt, vermutete aber stark, dass er indianischer Herkunft war, wahrscheinlich vom Stamm der Cherokee oder der Chickasaw. Seine Arme und sein Oberkörper waren vollständig mit Tätowierungen bedeckt. Offensichtlich gehörte er der Aryan Brotherhood an, einer rassistischen Bruderschaft, der die meisten weißen Häftlinge angehörten, weil sie ihnen dabei half, im Knast zu überleben. Die Tätowierungen auf Maynards Brust und auf seinem Rücken waren religiöse Symbole. Vorn auf der Brust hatte er eine große Taube und auf dem Rücken ein noch größeres Kreuz. Die beiden Tätowierungen hatte ich gesehen, als ein Aufseher ihn einmal mit bloßem Oberkörper hereingeführt hatte.
Maynard trug einen der üblichen Knast-Overalls, der ihm allerdings viel zu groß war. Er setzte sich und faltete seine schmalen Hände mit den langen dünnen Fingern vorn vor dem Bauch. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er seine schlanken Hände plötzlich aus den Handschellen gezogen hätte, die vorn an einer Gürtelkette befestigt waren. Zur Sicherheit hatten die Aufseher seine Fußfesseln noch zusätzlich an den Beinen seines Stuhls festgekettet, der wiederum in den Betonfußboden eingelassen war. Maynard vermied es, mich anzusehen.
»Hallo, Maynard«, sagte ich. »Wie ist es Ihnen denn so ergangen, seit Sie versucht haben, mich vor Gericht in die Pfanne zu hauen?«
Schweigen.
»Es gibt da ein paar Dinge, über die wir heute sprechen sollten, falls Sie dazu bereit sind. Sind Sie dazu bereit?«
Wieder nichts.
»Ich deute Ihr Schweigen einfach mal als positiven Bescheid. Zuerst würde ich gerne wissen, wieso Sie ein Gespräch mit einem psychiatrischen Sachverständigen ablehnen? So ein Gespräch bedeutet ja nicht etwa, dass Sie psychische Probleme haben, Maynard. Allerdings könnte uns die Aussage eines solchen Sachverständigen vor Gericht möglicherweise helfen.«
Maynard saß wie versteinert da. Fast schien es, als ob er gar nicht mehr atmete.
»Außerdem wüsste ich gerne, weshalb Sie weder mit dem Ermittler noch mit dem Experten sprechen wollen, der in Ihrem eigenen Interesse mildernde Umstände feststellen sollte, die wir vor Gericht geltend machen könnten. Diese Leute wollen Ihnen bloß helfen. Verstehen Sie das denn nicht?«
Schweigen.
»Ich habe mir das ganze Beweismaterial noch mal angeschaut und mich auch mit Ihrer Vorgeschichte beschäftigt, Maynard. Wie wäre es, wenn wir zur Abwechslung mal ganz normal miteinander sprechen würden? Sie haben die meiste Zeit Ihres Lebens im Gefängnis eingesessen. Sie haben Ihre erste Frau umgebracht, sind aber wegen verminderter Schuldfähigkeit relativ glimpflich davongekommen. Dann haben Sie einen Kerl ermordet, der mit ihrer Freundin gebumst hat, und sind zu fünfzehn Jahren Bau verurteilt worden. Außerdem haben Sie im Knast mindestens zwei Männer umgebracht, sind aber wieder einmal ungeschoren davongekommen. Als Sie draußen waren, haben Sie angefangen, Koks und Metamphetamin zu konsumieren. In dieser Zeit haben Sie fast alles verhökert und geraucht und geschnupft, was Sie gerade zu fassen bekommen haben. Und jetzt haben Sie ein paar junge Leute umgebracht und zerstückelt. Die Staatsanwaltschaft kann beweisen, dass Sie das Mädchen zuerst gefesselt, dann mit ihr sexuell verkehrt und sie schließlich erschossen haben. Die Rechtsmedizin hat Ihr Sperma in ihrer Vagina nachgewiesen; die
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