Engelsrache: Thriller
stand. Und dann öffnete sie auch schon die Tür und stieg aus. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen. »Es tut mir ja so leid, Liebling«, sagte sie. »Aber kurz nachdem du weggefahren bist, hat das Pflegeheim angerufen. Deine Mutter ist vor einigen Stunden gestorben.«
17. Juli
10:20 Uhr
Am Tag, nachdem meine Mutter gestorben war, fuhren wir zu ihrem Pflegeheim, um dort ihr Zimmer auszuräumen. Jack war am Vorabend mit dem Flugzeug gekommen und half mir, die Möbel in den Lastwagen zu tragen. Anschließend fuhren Caroline und ich zu dem Bestattungsunternehmen, für das wir uns entschieden hatten, während Jack und Lilly mit den Möbeln zu Mas Haus fuhren. Ein großer schlanker Mann mit Brille führte uns in den Raum mit den Särgen. Er sprach sehr leise und schien ein wenig zu lispeln.
In dem Raum waren ungefähr zwanzig Särge ausgestellt, Mahagoni, Teak, Eiche, Edelstahl. Zuerst geleitete uns der Mann zu einem runden Tisch in der Ecke.
»Bitte nehmen Sie doch Platz«, sagte er. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Oder vielleicht etwas Gebäck?«
Gebäck? Gebäck war das Letzte, wonach mir zumute war. Ich warf ihm einen Blick zu, der die meisten Leute gewiss zum Schweigen gebracht hätte, doch er sah mich bloß lächelnd an. Dann legte er einen Notizblock auf den Tisch und brachte einen Stift zum Vorschein.
»Ich habe schon viel über Sie gelesen, Mr Dillard«, sagte er, »Ihre Mutter habe ich allerdings nicht gekannt. Erzählen Sie mir doch bitte ein wenig über sie.«
»Weshalb?« Ich wusste, dass er sich weder für meine Mutter noch für mich interessierte. Er wollte mich lediglich um möglichst viel Geld erleichtern.
»Wegen der Todesanzeige in der Zeitung«, sagte der Mann. »Dafür brauche ich ein paar Informationen. Sagen Sie mir doch bitte, was Sie an Ihrer Mutter am meisten bewundert haben.«
»Meine Mutter war eine starke Frau und hat meine Schwester und mich allein aufgezogen, da mein Vater in Vietnam gefallen ist. Sie hat in der Buchhaltung einer Dachdeckerfirma gearbeitet und nebenher für andere Leute die Wäsche erledigt, um noch etwas dazuzuverdienen. Fremde Hilfe hat sie strikt abgelehnt. Sie war nicht sehr gesprächig und nicht sehr glücklich auf dieser Erde. Wie finden Sie das?«
»Welcher Kirche hat sie angehört?«
»Sie hat nicht an Gott geglaubt. Für sie war die christliche Religion ein einziger Schwindel, der vor allem den Zweck hat, die Menschen zu unterdrücken, ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen und sie mit Schuldgefühlen vollzupumpen. Glauben Sie, dass die Zeitung so etwas druckt?«
»Hat sie Geschwister gehabt?«
»Einen Bruder. Das war ein Dummkopf, der mit siebzehn Jahren im Nolichucky River ertrunken ist.«
»Und ihre Eltern?«
»Beide tot.«
»Würden Sie uns bitte einen Augenblick entschuldigen«, sagte Caroline. Sie nahm mich bei der Hand und zog mich nach vorn ins Foyer.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich das hier mache«, sagte sie.
»Ich kann solche Typen nicht ausstehen. Dem geht es doch nur um die Kohle.«
»Du siehst müde aus. Am besten, du gehst jetzt nach draußen und versuchst, ein bisschen im Auto zu schlafen, während ich das hier erledige.«
»Ich kann ja nicht mal im Bett schlafen. Wie kommst du bloß auf die Idee, dass ich im Auto schlafen könnte?«
»Bitte. Du musst dich erholen, dann geht es dir bald wieder besser. Ich versuche, hier alles so schnell wie möglich zu regeln.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich langsam verrückt wurde. Schon seit Jahren hatte ich immer wieder mal halb im Scherz an meinem Geisteszustand gezweifelt. Aber all die schrecklichen Sachen, die im späten Frühjahr und im Sommer passiert waren – in der Zeit zwischen Sarahs Entlassung aus dem Gefängnis und ihrer Wiedereinweisung –, hatten mich seelisch in ein tiefes dunkles Loch gestürzt. Ich konnte nicht mehr richtig schlafen und essen, und zum Fitnesstraining ging ich auch nicht mehr. Nichts machte mir mehr Freude, nicht mal Musik. Ich sah nur noch schwarz. Mir war alles egal, und auch Sex interessierte mich nicht mehr. Ich kam mir vor wie ein gefühlloser Roboter, der jeden Tag dasselbe Programm durchexerziert.
Ich trat vor die Tür, ging zum Auto und saß einige Minuten ratlos auf dem Beifahrersitz. Ich schloss die Augen, doch an Schlaf war gar nicht zu denken. Schließlich schrieb ich Caroline eine Nachricht, stieg wieder aus dem Wagen und machte mich zu Fuß auf den Heimweg. Bis zu unserem Haus waren es mindestens zehn Kilometer, und
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