Engelsrache: Thriller
meine Beine waren bleischwer. Doch ein bisschen Bewegung konnte trotzdem nicht schaden. Außerdem wollte ich versuchen, unterwegs meine Gedanken zu ordnen. Ich zwang mich, an angenehme Dinge zu denken, stellte mir Jack beim Baseball vor und Lilly beim Tanzen auf der Bühne, dachte daran, wie Caroline gejubelt hatte, als ich ihr eine Viertelmillion Dollar in einer Sporttasche in die Hand gedrückt hatte …
Aber schon bald gewannen wieder jene düsteren Bilder die Oberhand, von denen ich Nacht für Nacht im Bett verfolgt wurde. Johnny Wayne Neal, der geknebelt aus dem Gerichtssaal geschleppt wurde. Die Luftblasen, die im Scheinwerferlicht vor meinem Wagen aufgestiegen waren, als der junge Tester mich damals nachts in den See befördert hatte. Der Blick in Testers Augen, als er mir vorgeworfen hatte, dass ich ihm seinen Vater weggenommen hätte. Der fast unwiderstehliche Wunsch, den Mann totzuschlagen, den ich bei meinem Besuch auf Testers Grundstück und hinterher auf dem Heimweg empfunden hatte. Der Bluterguss, der Angel Christians Gesicht auf dem Polizeifoto entstellte. Mein mit David Bowers’ Blut getränktes Hemd. Maynards schmieriges Lächeln und der schreckliche Anblick seiner aus dem Mund hängenden Zunge. Meine in ihren Windeln hilflos sabbernd im Bett liegende Mutter. Und dann noch Sarah. Immer wieder die junge unschuldige Sarah. Joe, er soll mich in Ruhe lassen. Er tut mir weh.
Ich hatte noch ungefähr drei Kilometer bis zu unserem Haus zu gehen, als Caroline neben mir anhielt und die Beifahrertür aufstieß. Mittlerweile wusste ich vor lauter Selbsthass nicht mehr ein noch aus. Ich hasste mich, weil ich Sarah ins Gefängnis gebracht hatte und weil es mir nie gelungen war, meine Mutter wirklich zu erreichen. Ich hasste mich, weil ich solchen Scheusalen wie Maynard Bush, Randall Finch, Billy Dockery und zahllosen weiteren Schwerverbrechern juristischen Beistand geleistet hatte. Es gab nichts daran zu beschönigen: Ich war durch und durch käuflich, eine erbärmliche Kreatur.
»Ich liebe dich, Joe«, sagte Caroline, als ich in den Wagen stieg. Caroline ist äußerst feinfühlig und weiß ganz genau, wie sie mich zu behandeln hat. Mir war sofort klar, was sie bezweckte, aber ihre Worte prallten an mir ab wie ein Ball von einer Wand. Ich war völlig unfähig, irgendetwas zu fühlen.
»Hast du gehört? Ich habe gesagt, dass ich dich liebe.«
»Ja, ich weiß.«
»Weißt du eigentlich, wie sehr deine Kinder dich lieben? Jack betet den Boden unter deinen Füßen an. Und für Lilly bist du der größte Mann aller Zeiten.«
»Bitte, Caroline, hör auf. Nicht jetzt. Ich kann im Augenblick kein Mitleid gebrauchen.«
»Worüber denkst du denn die ganze Zeit nach? Was ist eigentlich los mit dir?«
»Das willst du doch gar nicht wissen.«
»Deine Mutter ist gerade gestorben, Liebling. Deshalb bist du ganz furchtbar traurig.«
»Meine Mutter und ich haben uns nicht besonders nahegestanden. Wir haben bloß viele Jahre zusammen in einem Haus gewohnt. Ich bin bei ihr aufgewachsen. Sie hat mich zwar aufgezogen, Caroline, aber ich kann mich nicht an ein einziges wirklich persönliches Gespräch mit ihr erinnern. Weißt du, was mir kürzlich eingefallen ist? In den vier Jahren auf der Highschool habe ich in vierzig Footballspielen, über hundert Basketballspielen und mehr als hundert Baseballspielen mitgespielt, und sie ist nicht mal zu einem einzigen dieser Spiele gekommen. Sie hat mich nie spielen sehen. Nicht ein einziges Mal.«
»Du hast in den letzten Monaten viel mitgemacht«, sagte sie. »Wir alle haben eine Menge durchgemacht.«
Den restlichen Heimweg legten wir schweigend zurück. In den folgenden Stunden lenkte Jack mich ein wenig ab. Wahrscheinlich weil Caroline ihn darum gebeten hatte, ging er mit mir zum Baseballplatz seiner alten Highschool. Ich hatte vor einigen Jahren eine Wurfmaschine gekauft. Diese Maschine fütterte ich jetzt immer wieder mit den Bällen, die Jack einen nach dem anderen über den Zaun drosch. Seine Schlagtechnik nötigte mir höchste Bewunderung ab. Er schlug so schnell, so kraftvoll und mit so leichtem Schwung und war viel, viel besser, als ich es je gewesen war. Seit Monaten hatte mir nichts mehr so viel Vergnügen bereitet wie sein perfektes Spiel. Die Sonne und die Bewegung taten mir gut, und als wir später wieder nach Hause kamen, ging es mir etwas besser.
Aber dann kam die Nacht und mit ihr ein neuer Schub Selbstvorwürfe. Am nächsten Morgen um elf Uhr fuhren wir zum
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