Engelsrache: Thriller
Friedhof. Als wir den Hügel zum Grab hinaufgingen, kam ich mir vor, als ob ich zu meiner eigenen Hinrichtung geführt würde. Aus den tief hängenden Wolken ging ein feiner Nieselregen nieder. Am Grab hatte sich eine kleine Schar von Trauergästen eingefunden. Ich spürte zwar ihre Anwesenheit, konnte sie aber nicht deutlich erkennen. Es war fast so, als ob sie in einer dichten Nebelwand standen.
Und dann sah ich plötzlich Sarah. Caroline hatte das Büro des Sheriffs angerufen und dafür gesorgt, dass sie unter Bewachung an der Bestattung teilnehmen konnte. Sie war in einem Streifenwagen hergebracht worden und stand in ihrem orangefarbenen Overall – an Händen und Füßen gefesselt – einige Meter von uns entfernt. Der Beamte, der zu ihrer Bewachung abgestellt war, gestattete ihr nicht, sich ebenfalls unter das Zeltdach zu stellen, unter dem Caroline, Lilly, Jack und ich Schutz gefunden hatten. Genau wie die übrigen Trauergäste musste sie im Regen stehen.
Caroline hatte Mas beste Freundin, eine gewisse Katie Lowe, gebeten, die Trauerrede zu halten. Ich saß einfach da und bekam kaum mit, was die Frau sagte, bis sie anfing, über Elizabeths Kinder zu sprechen. Dabei erfuhr ich einige Dinge über meine Mutter, die ich bis dahin nicht gewusst hatte, Dinge, die Ma ihrer Freundin über Sarah und mich erzählt hatte, etwa dass meine Mutter vor Freude geweint hatte, als ich damals mein juristisches Examen bestanden hatte. Ich hatte meine Mutter nie weinen sehen, und sie hatte in meiner Gegenwart auch nie erwähnt, dass sie stolz auf mich war.
Als die Trauerfeier zu Ende war, fasste der Polizeibeamte Sarah am Arm und führte sie umstandslos wieder den Hügel hinunter. Ich konnte sehen, wie sie unbeholfen auf den Rücksitz des Streifenwagens kletterte. Dann fuhr der Wagen davon, ich richtete den Blick wieder auf Mas Sarg, und mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich legte die Hände auf den Sarg und wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte, weil ich mich schämte, mir vor meinen Kindern eine Blöße zu geben. So blieb ich stehen, bis die kleine Trauergemeinde sich aufgelöst hatte. Dann verspürte ich – ich wusste selbst nicht, warum – plötzlich den Wunsch, mich nach unten zu neigen und den Sarg zu küssen. Ich hatte Ma zwar auch schon im Pflegeheim geküsst, aber zu dem Zeitpunkt war sie bereits so weit weg gewesen, dass sie davon nichts mehr mitbekommen hatte. Als ich jetzt ihren Sarg küsste, fiel mir wieder ein, dass ich ihr nie einen wirklich liebevollen Kuss gegeben hatte. Der Gedanke überkam mich mit solcher Macht, dass ich mich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte.
Ich lehnte mit bebenden Schultern an dem Sarg und bemühte mich, die Fassung zurückzugewinnen. Sie ist jetzt für immer weg, und du bist noch da, sagte ich zu mir. Sie ist für immer weg, und du bist noch da. Du bist noch am Leben. Du hast Menschen, die dich lieben. Hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden …
Hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden. Wie oft hatte ich diesen Satz aus dem Mund meiner Mutter gehört. Und als ich jetzt so an ihren Sarg gelehnt dastand, wusste ich, dass ich es versuchen musste. Die Menschen, die mich am meisten liebten, waren auf meine Kraft und meine Unterstützung angewiesen. Ich durfte sie einfach nicht im Stich lassen.
»Auf Wiedersehen, Ma«, flüsterte ich. »Tut mir so leid.«
Ich holte tief Luft, richtete mich auf, wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und schob das Kinn vor. Dann legte ich den einen Arm um Caroline, den anderen um Lilly und nickte Jack zu.
Gemeinsam gingen wir im strömenden Regen den Hügel hinunter zum Auto und kehrten in unseren Alltag zurück.
3. Teil
24. Juli
6:15 Uhr
Bereits beim Aufwachen hatte Agent Landers schlechte Laune. Er wusste nur zu gut, dass er in den folgenden Tagen einem Prozess beiwohnen musste, der trotz der Falschaussage, zu der Dillards Schwester sich verpflichtet hatte, durchaus noch verloren werden konnte. Als er gerade in die Dusche steigen wollte, klingelte sein Handy. »Welcher Arsch ruft mich denn morgens um sechs Uhr fünfzehn an?«, schimpfte er. Auf dem Display war nichts zu erkennen, also war die Nummer unterdrückt. Was soll dieser ganze Quatsch mit der Identifizierung, wenn der Anrufer seine Nummer trotzdem unterdrücken kann?, dachte er. Diese Netzbetreiber waren doch alle nur Schwachköpfe.
»Landers.«
»Ich habe eine wichtige Information für Sie.« Eine Frauenstimme. Landers konnte kaum
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