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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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ihm nach, um ihm zur Tür zu folgen.
    »Wir wissen, dass Guðlaugur in der Schule gehänselt worden ist«, sagte Sigurður Óli, als er sich verabschiedete, »und er kriegte einen Spitznamen. Kannst du dich erinnern, ob er jemals mit dir darüber gesprochen hat?«
    »Keine Frage, dass er damals gemobbt wurde, weil er im Chor sang, eine schöne Stimme hatte und nie Fußball spielte – und in vieler Hinsicht wie ein Mädchen war. Ich hatte das Gefühl, dass er sehr unsicher im Umgang mit anderen Menschen war. Wenn er mit mir darüber redete, klang er so, als hätte er Verständnis dafür gehabt, warum er von anderen gehänselt wurde. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass er einen speziellen Spitznamen erwähnt hätte …«
    Baldur zögerte.
    »Ja«, sagte Sigurður Óli.
    »Wenn wir zusammen waren, du weißt schon …«
    Sigurður Óli schüttelte verständnislos den Kopf.
    »Im Bett …«
    »Ja?«
    »Dann wollte er manchmal, dass ich ihn ›meine kleine Prinzessin‹ nannte«, sagte Baldur, und ein Lächeln spielte um seine Lippen.
     
    Erlendur starrte Sigurður Óli an.
    »Kleine Prinzessin?«
    »Das hat er gesagt.« Sigurður Óli stand vom Bett auf. »Und jetzt muss ich weiter. Bergþóra ist bestimmt schon auf hundertachtzig. – Du bist dann also Weihnachten bei dir zu Hause?«
    »Und was ist mit den Platten in den Kartons?«, fragte Erlendur. »Wo können die hingekommen sein?«
    »Dieser Baldur hat gesagt, er hätte keine Ahnung.«
    »Die kleine Prinzessin? Der Film mit Shirley Temple? Wie passt das zusammen? Hat dieser Kerl das irgendwie erklärt?«
    »Nein, er wusste auch nicht, was das zu bedeuten hatte.« »Es muss ja nichts Besonderes bedeuten«, sagte Erlendur wie zu sich selbst. »Irgend so ein Schwulenjargon, den man nicht kennt, vielleicht nicht komischer als manches andere. Also er hat sich selbst gehasst?«
    »Wenig Selbstvertrauen, so hat sein Freund es formuliert. Zwiespältigkeit.«
    »Wegen seiner schwulen Veranlagung oder wegen was?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du hast nicht danach gefragt?«
    »Wir können jederzeit wieder mit ihm sprechen, aber er schien nicht sonderlich viel über Guðlaugur zu wissen.«
    »Und wir auch nicht«, sagte Erlendur dumpf. »Falls er vor zwanzig, dreißig Jahren nicht wollte, dass seine homosexuelle Veranlagung bekannt wurde, wird er wohl dieses Versteckspiel auch später beibehalten haben, oder?«
    »Das ist die Frage.«
    »Bis jetzt bin ich niemandem begegnet, der erwähnt hat, dass er schwul wäre.«
    »Tja, also, dann mach’s gut«, sagte Sigurður Óli und stand auf. »Oder gibt’s sonst noch was für heute?«
    »Nein«, sagte Erlendur. »Es reicht fürs Erste. Danke für die Einladung, grüß Bergþóra von mir und versuch mal, nett zu ihr zu sein.«
    »Das bin ich immer«, sagte Sigurður Óli und machte, dass er wegkam. Erlendur schaute auf seine Uhr und sah, dass es Zeit für die Verabredung mit Valgerður war. Er nahm die letzte Videoaufzeichnung der Bank aus dem Apparat und legte sie oben auf den Stapel. Gleichzeitig begann das Handy zu klingeln.
    Es war Elínborg. Sie hatte mit der Staatsanwaltschaft gesprochen wegen des Vaters, der seinen Sohn misshandelte.
    »Was glauben die, was er bekommt?«, fragte Erlendur.
    »Sie glauben, dass er ungeschoren davonkommen kann«, sagte Elínborg. »Er wird nicht verurteilt, wenn er bei seiner Aussage bleibt. Wenn er einfach alles abstreitet. Dann braucht er auch nicht eine Sekunde in den Bau.«
    »Aber die Beweismittel? Die Spuren auf der Treppe? Die Drambuie-Flasche? Das deutet doch alles darauf …«
    »Ich weiß nicht, warum man sich überhaupt Mühe mit so etwas macht. Gestern erging ein ebenso tolles Urteil in einem anderen Fall. Ein Mann war mit zahlreichen Messerstichen angegriffen worden. Der Täter bekam gerade mal acht Monate, davon vier auf Bewährung, was bedeutet, dass er nur noch zwei Monate abzusitzen hat. Das kapiert man doch einfach nicht.«
    »Und der Junge muss zurück zu seinem Vater?«
    »Ganz bestimmt. Das einzig Positive, wenn man das positiv nennen will, ist, dass der Junge tatsächlich seinen Vater zu vermissen scheint. Das ist das, was ich nicht verstehe. Wie kann er so an seinem Vater hängen, wenn der Kerl immer wieder über ihn herfällt? Ich begreife das Ganze einfach nicht. Da muss es irgendwo ein Missing Link geben, etwas, das wir übersehen haben. So macht es einfach keinen Sinn.«
    »Ich spreche später mit dir«, sagte Erlendur und schaute wieder auf die Uhr. Er war schon

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