Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
jemand darüber aufregt. In den Jahren hatten Schwule keine Chance. Die meisten gingen ins Ausland, wie du weißt. Er kam mich oft besuchen, drücken wir das mal so aus. Hat auch ab und zu mal bei mir übernachtet. Er selber hatte ein Zimmer im Westend gemietet, und ich bin ein paar Mal da gewesen, aber für meinen Geschmack war er zu schlampig. Deswegen habe ich ihn zuletzt auch nicht mehr in seinem Zimmer besucht. Meistens waren wir hier bei mir zusammen.«
    »Wie habt ihr euch kennen gelernt?«, fragte Sigurður Óli. »Es gab damals Orte, wo Schwule sich getroffen haben. Einer davon war nicht weit vom Zentrum, gar nicht weit von hier. Das war kein Lokal, sondern ein Treffpunkt in einem Privathaus. In den Discos musste man immer auf alles gefasst sein, und man wurde sogar manchmal rausgesetzt, wenn man mit anderen Männern tanzte. Dieses Haus war so ein Mischmasch aus allem, Café, Pension, Nachtklub, Beratungsstelle und Treffpunkt. Er kam eines Abends mit einem Bekannten dorthin. Da habe ich ihn zuerst gesehen. Entschuldige bitte, wie konnte ich nur so unhöflich sein und dir keinen Kaffee anbieten! Möchtest du vielleicht einen?«
    Sigurður Óli schaute auf die Uhr.
    »Du bist wahrscheinlich in Eile«, sagte der Mann und strich sich sorgsam das dünne, gefärbte Haar zurecht.
    »Nein, das ist es nicht, ich würde einen Tee nehmen, wenn du einen hast«, sagte Sigurður Óli und dachte an Bergþóra. Sie konnte ganz schön grantig werden, wenn ihre Zeitplanung durcheinander geriet und ihm stundenlang die Hölle heiß machen, wenn er spät nach Hause kam.
    Der Mann ging in die Küche und machte einen Tee.
    »Er war fürchterlich schüchtern und verklemmt«, sagte Baldur aus der Küche und sprach etwas lauter, damit Sigurður Óli ihn verstehen konnte. »Ich hatte manchmal das Gefühl, dass er seine Homosexualität hasste, so als hätte er sie nie akzeptiert. Ich glaube, er hat die Beziehung zu mir unter anderem dazu benutzt, um sich vorzutasten. Er war immer noch auf der Suche, obwohl er schon so alt war. Aber das ist ja auch nichts Ungewöhnliches. Die Leute outen sich heutzutage mit vierzig, sind vielleicht bis dahin die ganze Zeit verheiratet gewesen und haben vier Kinder.«
    »Ja, das wird unterschiedlich gehandhabt«, sagte Sigurður Óli, der keine Ahnung hatte, worüber er redete.
    »Oh ja, mein Lieber. Trinkst du ihn lieber stark oder schwach?«
    »Seid ihr lange zusammen gewesen?«, fragte Sigurður Óli und fügte hinzu, dass er den Tee gerne stark hätte.
    »Etwa drei Jahre, aber zuletzt haben wir uns nur sehr sporadisch gesehen.«
    »Und seitdem hast du keine Verbindung zu ihm gehabt?« »Nein. Ich wusste von ihm, so gesehen«, sagte der Mann und kam wieder ins Wohnzimmer. »Die Homosexuellenszene hierzulande ist nicht so groß.«
    »Inwiefern war er verklemmt?«, fragte Sigurður Óli, während der Mann Tassen auf den Tisch stellte. Er hatte auch eine Schale mit Plätzchen mitgebracht, die Sigurður Óli gut kannte, denn Bergþóra backte jedes Jahr dieselbe Sorte zu Weihnachten. Er versuchte sich zu erinnern, wie sie hießen, aber es fiel ihm nicht ein.
    »Er war sehr verschlossen und hat sich nur selten geöffnet, höchstens, wenn wir einen zusammen getrunken haben. Das hatte etwas mit seinem Vater zu tun. Er hatte keinerlei Verbindung zu ihm, vermisste ihn aber sehr und genauso seine ältere Schwester, die sich gegen ihn gestellt hatte. Seine Mutter war schon viele Jahre tot, als ich ihn kennen lernte, aber er sprach fast immer nur von ihr. Er konnte endlos über seine Mutter erzählen, das war äußerst ermüdend, kann ich dir sagen.«
    »Inwiefern hat sie sich gegen ihn gestellt? Die Schwester?« »Das ist sehr lange her, und er ist nie genau darauf eingegangen. Ich weiß nur, dass er gegen seine Veranlagung angekämpft hat. Weißt du, was ich meine? Als ob er etwas anderes hätte sein sollen.«
    Sigurður Óli schüttelte den Kopf.
    »Er fand es irgendwie schmutzig und unnatürlich, schwul zu sein.«
    »Und hat dagegen angekämpft?«
    »Ja und nein. Er war in dieser Hinsicht sehr zwiespältig. Ich glaube, er wusste einfach nicht, was er wirklich wollte. Er hatte wenig Selbstvertrauen. Manchmal glaube ich, dass er sich selbst gehasst hat.«
    »Kanntest du seine Vergangenheit als Kinderstar?«
    »Ja«, sagte der Mann und stand auf, ging in die Küche und kam mit der dampfenden Teekanne zurück und goss die Tassen ein. Er brachte die Kanne wieder zurück in die Küche, und sie tranken einen Schluck

Weitere Kostenlose Bücher