Engelsstimme
lässt.«
»Ich kann natürlich auch mit deiner Frau sprechen«, sagte Erlendur. »Sie fragen, ob sie dir gestern Tee ans Bett gebracht hat.«
»Lass sie bloß da raus«, sagte der Empfangschef, und plötzlich schwang ein härterer und ernster Ton in der Stimme mit. Er wurde rot.
»Ich lass sie da nicht raus«, sagte Erlendur.
Der Empfangschef schien Erlendur mit seinen Blicken töten zu wollen.
»Du wirst nicht mit ihr reden.«
»Warum denn nicht? Was versuchst du eigentlich zu verbergen? Du verhältst dich inzwischen in meinen Augen schon so verdächtig, dass du mich so schnell nicht loswerden wirst.«
Der Empfangschef starrte vor sich hin und stöhnte.
»Lass mich in Ruhe. Es hat nichts mit Guðlaugur zu tun. Ich habe einige private Probleme und versuche, das auf die Reihe zu kriegen.«
»Worum dreht es sich?«
»Darüber muss ich mich mit dir nicht unterhalten.«
»Überlass es doch mir, das zu beurteilen.«
»Du kannst mich nicht dazu zwingen.«
»Wie gesagt: Ich kann Untersuchungshaft für dich anordnen lassen. Oder ich kann ganz einfach mit deiner Frau sprechen.«
Der Empfangschef seufzte tief auf.
»Es bleibt aber unter uns?«
»Falls es nichts mit Guðlaugur zu tun hat.«
»Es hat nichts mit ihm zu tun.«
»In Ordnung.«
»Vorgestern hat jemand bei meiner Frau angerufen«, sagte der Empfangschef. »Am gleichen Tag, an dem ihr Guðlaugur gefunden habt.«
Am Telefon war eine weibliche Stimme gewesen, die seine Frau nicht kannte, und hatte nach ihm gefragt. Mitten in einer normalen Arbeitswoche, aber es war nicht weiter ungewöhnlich, dass tagsüber nach ihm gefragt wurde. Alle, die ihn kannten, wussten, dass seine Arbeitszeiten ziemlich unregelmäßig waren. Seine Frau war Ärztin, die schichtweise im Krankenhaus arbeitete. Der Anruf hatte sie geweckt; sie musste erst abends wieder zur Arbeit. Die Frau am Telefon tat, als würde sie den Empfangschef gut kennen, war aber sofort auf der Hut, als die Ehefrau wissen wollte, wer sie war.
»Wer bist du?«, hatte sie gefragt. »Warum rufst du hier an?« Die Antwort, die daraufhin erfolgte, hatte noch mehr Verwunderung und Befremden ausgelöst.
»Er hat Schulden bei mir«, hatte die Stimme am Telefon gesagt.
»Sie hatte mir damit gedroht, dass sie zu Hause anrufen würde«, sagte der Empfangschef zu Erlendur.
»Und wer war das?«
Vor zehn Tagen hatte er abends einen draufgemacht. Die Ehefrau war auf einem Ärztekongress in Schweden, und er war mit drei Freunden essen gegangen. Sie hatten viel Spaß, alles alte Freunde, sie machten nach dem Essen einen Kneipenbummel und endeten in einem populären Vergnügungslokal in der Altstadt. Dort hatte er seine Freunde aus den Augen verloren, war zur Bar gegangen und hatte dort ein paar Leute getroffen, die er aus der Hotelbranche kannte. Er stand ganz in der Nähe einer kleinen Tanzfläche und schaute sich die tanzenden Leute an. Er war ein bisschen betrunken, aber doch nicht so, dass er nicht imstande gewesen wäre, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Deswegen war das alles so unbegreiflich für ihn. So etwas hatte er noch nie gemacht.
Sie kam auf ihn zu, und genau wie in Spielfilmen hatte sie eine Zigarette zwischen den Fingern und bat um Feuer. Er rauchte zwar nicht, aber wegen seiner Tätigkeit hatte er sich angewöhnt, immer ein Feuerzeug bei sich zu tragen. Die Angewohnheit stammte noch aus der Zeit, in der man überall rauchen durfte, wo man wollte. Sie redete mit ihm über etwas, was ihm schon längst wieder entfallen war, und fragte dann, ob er sie nicht zu einem Glas einladen wolle. Er schaute sie an. Doch, natürlich. Sie standen an der Bar, und er bestellte die Getränke, und als ein kleiner Tisch frei wurde, setzten sie sich. Sie war sehr attraktiv und flirtete mit ihm. Er nahm zwar an dem Spiel teil, war aber unsicher, was sich da abspielte. Frauen benahmen sich ihm gegenüber normalerweise nicht so. Sie saß ganz dicht neben ihm und war zudringlich. Als er aufstand, um einen zweiten Drink zu holen, ließ sie ihre Hand über seinen Schenkel gleiten. Er schaute sie an und sie lächelte. Eine attraktive, schöne Frau, die wusste, was sie wollte. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als er.
Zu fortgeschrittener Stunde fragte sie, ob er sie nach Hause begleiten würde. Sie wohnte ganz in der Nähe, und sie machten sich auf den Weg. Er war immer noch verunsichert und zögerte, aber war auch gespannt, was noch kommen mochte. Das alles war ihm so fremd, er kam sich vor wie auf dem Mond.
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