Engelsstimme
haben.«
»Deine Firma steht vor dem Bankrott«, sagte Elínborg. »Du musstest mehr als zwanzig Leuten kündigen, und weitere Kündigungen stehen in Aussicht. Ich gehe davon aus, dass du unter starkem Druck stehst. Das Haus wirst du auch nicht behalten können …«
»So ist es halt im Geschäftsleben.«
»Wir gehen sogar davon aus, dass du bereits früher ihm gegenüber Gewalt angewendet hast.«
»Also, jetzt hör …«
»Wir haben die Krankenberichte durchgeschaut. Innerhalb von vier Jahren zweimal gebrochene Finger.«
»Hast du Kinder? Kinder verletzen sich doch dauernd. Das ist ja absurd.«
»Ein Kinderarzt hat beim letzten Vorfall auf einige Abnormalitäten hingewiesen und das Jugendamt verständigt. Die sind zu dir nach Hause gekommen und haben die häuslichen Verhältnisse inspiziert, haben aber nichts feststellen können. Der Kinderarzt hingegen hat Nadelstiche auf dem Handrücken des Jungen gefunden.«
Der Vater schwieg.
Elínborg verlor die Beherrschung.
»Du Monster«, fauchte sie.
»Ich möchte mit meinem Rechtsanwalt sprechen«, sagte er und wich ihrem Blick aus.
»I said, good morning!«
Erlendur kam wieder zu sich. Henry Wapshott stand vor ihm und wünschte ihm einen guten Morgen. Er war in seinen Gedanken völlig versunken gewesen, hatte an den Jungen gedacht, der die Treppe hinaufgelaufen war, und weder bemerkt, dass Wapshott in die Bar gekommen war, noch gehört, als er ihm einen guten Morgen wünschte.
Er sprang auf und schüttelte ihm die Hand. Wapshott trug die gleichen Sachen wie am Tag zuvor. Nur das Haar war etwas unordentlicher, er wirkte müde. Er bestellte Kaffee, und Erlendur tat es ihm nach.
»Wir haben über Sammler gesprochen«, sagte Erlendur.
»Yes«, sagte Wapshott und lächelte gequält. »Bunch of loners, like myself.«
»Wie findet ein Sammler in England wie Sie heraus, dass es vor fast vierzig Jahren in Hafnarfjörður auf Island einen Chorknaben mit einer schönen Stimme gegeben hat?«
»Oh, viel mehr als nur eine schöne Stimme. Viel, viel mehr als das. Er hatte eine einzigartige Stimme, dieser Junge.«
»Wie haben Sie von Guðlaugur Egilsson erfahren?«
»Durch Menschen mit denselben Interessen wie ich. Schallplattensammler spezialisieren sich, aber das habe ich Ihnen, glaube ich, bereits gestern gesagt. Nehmen wir Chormusik, in dem Bereich können sich Sammler auf bestimmte Bereiche konzentrieren, beispielsweise bestimmte Lieder oder bestimmte Arrangements oder auch nur bestimmte Chöre. Oder andere, wie ich, auf Chorknaben. Einige sammeln nur Chorknaben auf den alten 78er Schellackplatten, andere sammeln Singles mit 45 Umdrehungen, aber nur von einer bestimmten Schallplattenfirma. Man kann sich endlos spezialisieren. Manche sammeln ausschließlich sämtliche Aufnahmen eines bestimmten Lieds, bespielsweise Stormy Weather , das kennen Sie bestimmt. Nur damit Sie verstehen, um was es geht. Von Egilsson habe ich durch eine Gruppe japanischer Sammler erfahren, die eine umfangreiche Informations-und Tauschbörse im Internet betreiben. Niemand sammelt so viel westliche Musik wie die Japaner. Die reisen um die ganze Welt und kaufen wie die Staubsauger alles auf, was auf Platten herausgegeben wurde und ihnen in die Finger kommt. Besonders aus der Beatles-und Hippiezeit. Sie sind auf allen Plattenbörsen bekannt wie die bunten Hunde, und das Beste ist, dass sie Geld haben.«
Erlendur überlegte, ob man an der Bar rauchen durfte und beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Als Wapshott sah, dass er sich eine Zigarette anzünden wollte, holte er selber eine zerknitterte Packung Chesterfield hervor, Erlendur gab ihm Feuer.
»Meinen Sie, dass man hier rauchen darf?«, fragte Wapshott.
»Das wird sich herausstellen«, sagte Erlendur.
»Die Japaner besaßen ein Exemplar von Egilssons kleiner Platte«, sagte Wapshott. »Die, die ich Ihnen gestern Abend gezeigt habe. Ich habe sie ihnen abgekauft. Unheimlich teuer, aber ich bereue es nicht. Als ich danach fragte, wo sie die Platte herhätten, bekam ich zu hören, dass dieses Exemplar von einem norwegischen Sammler aus Bergen auf einem Schallplattenmarkt in Liverpool gekauft worden war. Ich konnte mich mit dem norwegischen Sammler in Verbindung setzen, und es stellte sich heraus, dass er sie aus dem Nachlass eines Plattenproduzenten in Trondheim erstanden hatte. Dem war ein Exemplar aus Island zugeschickt worden, vielleicht von jemandem, der den Jungen international bekannt machen wollte.«
»Was für ein Aufwand
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