Engelsstimme
zog eine kleine Karte aus der Brusttasche und reichte sie Erlendur.
»Sie haben den Flug geändert?«, fragte Erlendur.
»Nachdem ich ihn jetzt nicht mehr treffen kann«, sagte Wapshott, »habe ich das meiste, was ich vorhatte, erledigt, und damit spare ich mir eine Nacht im Hotel.«
»Nur eine Sache noch«, sagte Erlendur.
»Ja.«
»Nachher kommt eine Laborantin und entnimmt Ihnen eine Speichelprobe, falls Sie keine Einwände haben.«
»Eine Speichelprobe?«
»Ja, wegen der Ermittlung.«
»Wieso denn Speichelprobe?«
»Das kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen.« »Stehe ich unter Verdacht?«
»Wir nehmen Speichelproben von allen, die Guðlaugur gekannt haben. Das steht im Zusammenhang mit der Ermittlung. Das hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun.« »Ich verstehe«, sagte Wapshott. »Speichel! Wie komisch.« Er lachte, und Erlendur sah die Zähne im Unterkiefer, die schwarz von Nikotin waren.
Elf
Sie kamen durch die Drehtür ins Hotel, er alt und gebrechlich im Rollstuhl, sie hinter ihm, zierlich und schlank, mit spitzer Adlernase und stechendem Blick, den sie über das Foyer des Hotels gleiten ließ. Die Frau war zwischen fünfzig und sechzig, sie trug einen dicken, braunen Wintermantel und hohe schwarze Lederstiefel. Sie schob den Rollstuhl geschickt vor sich her. Der Mann war um die achtzig, weißes Haar war unter dem Hut zu sehen, das hagere Antlitz leichenblass. Er saß gekrümmt, hatte einen schwarzen Schal um den Hals, und seine weißen, knochigen Hände schauten aus den Ärmeln des schwarzen Mantels hervor. Eine dicke, schwarze Hornbrille vergrößerte seine Augen, die an Fischaugen erinnerten.
Die Frau schob den Rollstuhl zur Rezeption. Der Empfangschef kam aus seinem Büro und beobachtete, wie sie näher kamen.
»Kann ich behilflich sein?«
Der Mann im Rollstuhl würdigte ihn keines Blickes. Die Frau jedoch fragte nach einem Kriminalbeamten, der Erlendur heiße und der ihren Informationen zufolge hier im Hotel eine Ermittlung leite. Erlendur hatte kurz zuvor mit Wapshott die Bar verlassen und sie ins Hotel kommen sehen. Sie weckten sofort sein Interesse. Sie hatten irgendetwas an sich, das ihn an den Tod denken ließ.
Er überlegte kurz, ob er Wapshott festsetzen und ihm verbieten sollte, nach London zurückzukehren, fand aber keinen triftigen Grund, den Mann festzuhalten. Er beobachtete weiterhin interessiert die Frau mit der Adlernase und den Mann mit den Fischaugen an der Rezeption und fragte sich gerade, was das für Leute wohl sein mochten, als der Empfangsschef ihn bemerkte und ihm zuwinkte. Erlendur wollte sich von Wapshott verabschieden, aber der war wie vom Erdboden verschluckt.
»Die beiden haben nach dir gefragt«, sagte der Empfangschef, als Erlendur auf sie zukam. Erlendur stellte sich zu ihnen an die Rezeption. Die Dorschaugen unter dem Hut fixierten ihn voller Skepsis.
»Bist du Erlendur?«, fragte der Mann im Rollstuhl mit alter, unsicherer Stimme.
»Ihr wollt mit mir sprechen?«, fragte Erlendur. Die Adlernase strebte in die Höhe.
»Leitest du hier im Hotel die Ermittlung im Mordfall Guðlaugur Egilsson?«, fragte die Frau.
»Ja«, entgegnete Erlendur.
»Ich bin seine Schwester. Und das ist unser Vater. Können wir irgendwo in Ruhe miteinander sprechen?«
»Kann ich dir mit dem Rollstuhl behilflich sein?«, fragte Erlendur, aber sie schaute ihn an, als hätte er etwas Anzügliches gesagt, und schob los. Sie folgten Erlendur in die Bar zu dem gleichen Tisch, an dem er eben noch mit Wapshott gesessen hatte. Außer ihnen war niemand dort, sogar der Barkeeper war verschwunden. Erlendur wusste nicht, ob die Bar überhaupt vormittags geöffnet war. Wahrscheinlich schon, denn immerhin war die Tür nicht verschlossen gewesen. Anscheinend wusste nur kaum jemand davon.
Die Frau schob den Rollstuhl zum Tisch und stellte ihn mit der Bremsvorrichtung fest. Dann nahm sie Erlendur gegenüber Platz.
»Ich war schon auf dem Weg zu euch«, schwindelte Erlendur, der es eigentlich Sigurður Óli und Elínborg zugedacht hatte, mit den Hinterbliebenen von Guðlaugur zu sprechen. Er konnte sich aber nicht erinnern, ob er ihnen diesbezügliche Anweisungen gegeben hatte.
»Wir sind nicht darauf erpicht, die Polizei bei uns im Haus zu haben«, sagte die Frau. »So was hat es noch nie gegeben. Eine Frau hat bei uns angerufen, wahrscheinlich eine Mitarbeiterin von dir, Elínborg hat sie, glaube ich, geheißen. Ich habe gefragt, wer die Ermittlung leitet, und da wurde mir
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