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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Bergen erzählte.«
    »Du musst es mir nicht erzählen«, sagte sie.
    »Doch, ich möchte es dir aber erzählen«, sagte Erlendur. »Besteht eine Möglichkeit, dass wir uns noch einmal treffen?«
    »Ich …«, sie verstummte. »Mach dir keine unnötigen Sorgen deswegen. Das war nicht weiter schlimm. Vergessen wir es. Ist das in Ordnung?«
    »Ganz in Ordnung, wenn du es so willst«, sagte er völlig gegen seinen Willen.
    »Wo ist dieser Wapshott?«
    Erlendur ging mit ihr zur Rezeption, wo ihr die Zimmernummer gesagt wurde. Sie gaben sich die Hand, und er schaute ihr nach, während sie zum Aufzug ging. Dort wartete sie, ohne sich umzublicken. Er überlegte, ob er noch einen Versuch wagen sollte; bevor er dazu kam, öffnete sich die Tür, und sie verschwand im Aufzug. Bevor sich die Tür schloss, schaute sie zu ihm herüber und lächelte ein fast unsichtbares Lächeln.
    Erlendur blieb stehen und sah, dass der Lift auf der Etage von Wapshott anhielt. Dann drückte er auf den Knopf und holte ihn nach unten. Er spürte den Duft von Valgerður, als er zu seinem Zimmer hochfuhr.
    Er legte eine Platte mit dem Chorknaben Guðlaugur Egilsson auf und achtete darauf, den Plattenspieler auf 45 Umdrehungen einzustellen. Dann streckte er sich auf dem Bett aus. Die Platte war so gut wie neu. Keine Kratzer und kein Staub. Es knirschte nur ein wenig am Anfang, aber dann kam das Vorspiel und es begann eine reine und außerordentlich schöne Knabenstimme, das Ave Maria zu singen.
     
    Er stand allein auf dem Gang und öffnete vorsichtig die Tür zum Zimmer seines Vaters. Er sah ihn auf der Bettkante sitzen und in stummer Verzweiflung vor sich hinstarren. Sein Vater hatte nicht an der Suche teilgenommen. Er war unter größten Strapazen zum Hof zurückgekehrt, nachdem er bei einem Unwetter, das urplötzlich hereingebrochen war, seine beiden Söhne aus den Augen verloren hatte. Er war im Schneesturm umhergeirrt und hatte nach ihnen gerufen, aber er konnte nicht die Hand vor Augen sehen, und das Brüllen des Sturms erstickte seine Schreie. Sein Entsetzen war unbeschreiblich. Er hatte die beiden Jungen mitgenommen, um Schafe zusammenzutreiben. Ein paar von den Schafen, die ihm gehörten, waren in die Berge entwischt. Er wollte sie wieder zum Stall holen. Es war zwar Winter, die Wettervorhersage gab jedoch keinen Anlass zur Besorgnis, und als sie sich auf den Weg machten, waren die Wetteraussichten gut gewesen. Aber es war eben nur eine Vorhersage und nur die Aussichten. Das Unwetter brach ohne Vorwarnung herein.
    Erlendur ging zu seinem Vater ins Zimmer und blieb neben ihm stehen. Er begriff nicht, warum er auf dem Bett saß und nicht mit den Suchmannschaften in die Berge ging. Sein Bruder war immer noch nicht gefunden worden. Er konnte noch am Leben sein, auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich war. Das konnte Erlendur an den Mienen der Leute ablesen, die völlig erschöpft in die bewohnten Gebiete hinunterkamen, um sich auszuruhen und zu stärken und dann wieder in die Berge zu gehen. Sie kamen von den Höfen ringsum und aus den kleinen Ortschaften an der Küste, alle, die zupacken konnten, waren dabei. Sie hatten Hunde bei sich und lange Stangen, mit denen sie im Schnee stocherten. So hatten sie Erlendur gefunden. So wollten sie seinen Bruder finden.
    Sie verteilten sich in kleinen Suchtrupps über die Hochebene, jeweils acht bis zehn Männer. Sie stocherten mit den Stangen im Schnee und riefen den Namen seines Bruders. Zwei Tage waren vergangen, seit sie Erlendur gefunden hatten, und drei Tage, seit der Schneesturm sie auseinander gerissen hatte. Die Brüder waren noch eine ganze Weile beieinander geblieben. Erlendur war zwei Jahre älter und hielt seinen Bruder an der Hand, aber die Finger wurden kalt und klamm, und Erlendur merkte nicht, als der Griff sich lockerte. Er hatte immer noch das Gefühl, die Hand zu halten, als er sich umdrehte und seinen Bruder nicht mehr sah. Viel später glaubte er sich zu erinnern, wie die Hand des Bruders ihm entglitt, aber das war nur seine Einbildung. Er hatte nichts gespürt, als es passierte.
    Er selber hatte geglaubt, dass er mit zehn Jahren umkommen würde in diesem Schneesturm, der nicht enden zu wollen schien und ihn von allen Seiten angriff, der an ihm zerrte und ihm die Sicht versperrte, kalt und hart und gnadenlos. Zum Schluss ließ er sich in den Schnee sinken und versuchte sich einzugraben. Da lag er und dachte an seinen Bruder, der auch hier oben in den Bergen sterben musste.
    Er erwachte

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