Engelsstimme
derzeit nichts vor?«, fragte Erlendur. »Bei der englischen Polizei?«
»Nein, die sind bestimmt heilfroh, ihn los zu sein«, sagte Sigurður Óli. »Elínborg hat Recht gehabt.«
»Wie war das noch?«
»Dass Henrys Interesse an Guðlaugur, das heißt, an dem Chorknaben Guðlaugur und nicht an dem Weihnachtsmann, sexueller Natur gewesen ist. Sie hat uns verklemmte Mönche genannt, weil wir nicht mit ihrer Phantasie mitkamen.«
»Mit anderen Worten, Henry ist da unten bei ihm gewesen und hat ihn umgebracht? Den Chorknaben, den er verehrte? Klingt das nicht trotzdem irgendwie widersinnig?«
»Ich krieg sowieso keinen Sinn in das Ganze«, sagte Sigurður Óli. »Ich begreife Kerle mit solchen perversen Interessen einfach nicht, ich weiß bloß, dass es das Abartigste ist, was man sich vorstellen kann.«
»Angesehen hat man ihm das nicht, so auf den ersten Blick«, sagte Erlendur und nippte an einem grünen Chartreuse, den er inzwischen bestellt hatte.
»Denen sieht man nie was an, diesen perversen Päderasten«, sagte Sigurður Óli.
Sie waren wieder ins Erdgeschoss gegangen und hatten in der kleinen Bar Platz genommen. An der Theke herrschte Hochbetrieb. Die ausländischen Hotelgäste waren aufgekratzt und unterhielten sich mit geröteten Wangen lautstark über das, was sie tagsüber alles gesehen und erlebt hatten. Man sah ihnen an, dass sie mit ihrem Aufenthalt im winterlichen Island sehr zufrieden waren.
»Hast du herausgefunden, ob Guðlaugur irgendwelche Bankkonten hatte?«, fragte Erlendur. Er zündete sich eine Zigarette an und stellte mit einem kurzen Blick fest, dass er der Einzige in der Bar war, der rauchte.
»Ich bin dabei«, sagte Sigurður Óli und nahm einen Schluck Bier.
Elínborg erschien im Eingang zur Bar, und Sigurður Óli winkte ihr zu. Sie nickte und zwängte sich zu ihnen zur Theke durch, bestellte sich ein großes Bier und setzte sich. Sigurður Óli informierte Elínborg in knappen Worten darüber, was die englische Polizei in Bezug auf Wapshott zu berichten hatte. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Da habe ich also haarscharf ins Schwarze getroffen.«
»Womit?«
»Damit, dass sein Interesse an Chorknaben mit Sex zu tun hat. Und sein Interesse an Guðlaugur genauso.«
»Meinst du, dass er und Guðlaugur da unten rumgemacht haben?«
»Vielleicht wurde Guðlaugur dazu gezwungen. Und irgendjemand hatte ein Messer dabei.«
»Mein Gott, dass man sich zu Weihnachten über so was den Kopf zerbrechen muss«, stöhnte Elínborg.
»Nicht gerade appetitlich«, sagte Erlendur und leerte sein Glas Chartreuse. Er hätte gern noch eins getrunken, er schaute auf die Uhr. Im Büro wäre jetzt Dienstschluss angesagt. Der Betrieb an der Bar hatte etwas nachgelassen, und Erlendur gab dem Barkeeper ein Zeichen.
»Das hieße, es wären mindestens zwei da unten bei ihm gewesen, denn schließlich schaffst du es kaum, jemanden zu bedrohen, wenn du bei so einer Beschäftigung vor jemandem kniest«, bemerkte Sigurður Óli. Er schaute zu Elínborg hinüber, weil er glaubte, dass er vielleicht zu weit gegangen war.
»Das wird ja immer besser«, sagte Elínborg.
»Die Spekulatius verlieren wohl etwas an Geschmack«, sagte Erlendur.
»Okay, aber warum geht er mit dem Messer auf Guðlaugur los?«, fuhr Sigurður Óli fort. »Und zwar nicht nur einmal, sondern mehrmals. Als hätte er die Kontrolle über sich verloren. Falls es Henry war, der über ihn hergefallen ist, muss da im Keller etwas vorgefallen oder gesagt worden sein, wodurch dieser perverse Brite völlig ausgerastet ist.«
Der Barkeeper kam, und Erlendur wollte eine weitere Runde bestellen, Elínborg und Sigurður Óli lehnten jedoch ab, indem sie auf die Uhr zeigten. Weihnachten rückte unerbittlich näher.
»Ich bin überzeugt, dass er da unten mit einer Frau zusammen war«, sagte Sigurður Óli.
»Die haben das Kortisol gemessen«, sagte Erlendur, »und das war völlig normal. Wer immer mit Guðlaugur zusammen war, kann schon weg gewesen sein, als er ermordet wurde.«
»Finde ich nicht sehr wahrscheinlich, wenn man bedenkt, wie wir ihn gefunden haben«, warf Elínborg ein.
»Wer auch immer mit ihm zusammen war, ist zu nichts gezwungen worden«, sagte Erlendur. »So viel steht, glaube ich, fest. Falls der Kortisolspiegel höher gewesen wäre, hätte es auf körperliche Erregung oder Spannung gedeutet.«
»Also war es eine Nutte«, sagte Sigurður Óli, »die schlicht und ergreifend ihrem Job nachging.«
»Können wir
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