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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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wollen, dass der Arzt die Wunden sieht, die blauen Flecken. Sie wollen, dass es herauskommt. Weißt du, warum?«
    Er saß weiterhin stumm da.
    »Weil sie wollen, dass es ein Ende damit hat. Dass irgendjemand eingreift. In einen Prozess eingreift, den sie selber nicht im Griff haben. Sie sind unfähig dazu, wollen aber, dass der Arzt bemerkt, dass etwas aus der Bahn gelaufen ist.«
    Sie blickte den Vater an. Erlendur verfolgte alles schweigend mit. Er bekam aber jetzt Bedenken, dass Elínborg zu weit gehen könnte. Sie schien äußerst bemüht, professionell vorzugehen und nicht zu zeigen, dass sie persönlich involviert war. Es schien ein hoffnungsloser Kampf zu sein, und sie war sich offenbar selbst darüber im Klaren. Sie war viel zu emotional.
    »Ich habe mit deinem Hausarzt gesprochen«, sagte Elínborg. »Er sagt, dass er zweimal wegen der Verletzungen, die der Junge aufwies, einen Bericht an das Jugendamt weitergeleitet hat. In beiden Fällen wurde der Junge untersucht, aber es brachte kein eindeutiges Resultat. Die Sache wurde auch dadurch nicht einfacher, dass der Junge nichts gesagt hat und du nichts zugegeben hast. Es ist eine Sache, das Bedürfnis zu haben, seine Gewalttätigkeit zuzugeben, eine andere, zu seiner Aussage zu stehen, wenn es darauf ankommt. Ich habe die Berichte gelesen. In dem zweiten wurde dein Sohn gefragt, wie eure Beziehung ist, aber er schien die Frage nicht zu verstehen. Dann wurde er gefragt: Zu wem hast du das meiste Vertrauen? Und seine Antwort war: Zu meinem Vater. Ich habe das meiste Vertrauen zu meinem Vater.«
    Elínborg schwieg eine Weile.
    »Findest du das nicht furchtbar?«, fragte sie.
    Sie schaute zu Erlendur herüber, dann wieder zu dem Vater.
    »Findest du das nicht furchtbar?«

    Erlendur überlegte, dass er irgendwann einmal genau wie der Junge geantwortet hätte. Er hätte seinen Vater genannt.
    Als es Frühling wurde und der Schnee geschmolzen war, ging er in die Berge, um nach seinem Sohn zu suchen. Er versuchte zu berechnen, in welche Richtung er gegangen sein könnte, ausgehend von dem Punkt, wo Erlendur gefunden worden war. Er schien sich in gewisser Hinsicht wieder gefangen zu haben, wurde aber von Schuldgefühlen gequält.
    Er wanderte kreuz und quer über das Hochplateau und bis ins Gebirge hinauf, viel weiter, als der kleine Junge es jemals geschafft haben könnte, alles ohne Erfolg. Er schlug sein Zelt in den Bergen auf, Erlendur begleitete ihn, auch seine Mutter nahm an der Suche teil. Manchmal kamen die Nachbarn, um mitzusuchen, aber der Junge wurde nie gefunden. Es bedeutete aber so viel, die sterblichen Überreste zu finden, denn erst dann konnte sein Tod akzeptiert werden, bis dahin war er nur verschollen, die Wunde blieb offen und aus ihr sickerte unermessliche Trauer.
    Erlendur kämpfte auf seine eigene Weise damit. Es ging ihm schlecht, und zwar nicht nur, weil er seinen Bruder verloren hatte. Er war zwar froh darüber, dass er selber gerettet worden war, aber mit der Zeit wurde er von furchtbaren Schuldgefühlen heimgesucht, weil er und nicht sein kleiner Bruder gefunden worden war. Nicht genug damit, dass er seinen Bruder nicht in dem Schneesturm hatte festhalten können, sondern er quälte sich auch mit dem Gedanken, dass er es war, der hätte umkommen sollen. Er war älter und trug die Verantwortung für seinen Bruder. So war es immer gewesen. Er hatte auf ihn aufgepasst, bei allen Spielen, wenn sie allein zu Hause waren, wenn sie mit kleinen Aufträgen in die Nachbarschaft geschickt wurden. Er hatte die Verantwortung gehabt und sich ihr gestellt. Doch dieses Mal hatte er versagt. Und wenn sein Bruder sterben musste, hatte er es nicht verdient, gerettet zu werden. Er wusste nicht, wozu er lebte. Und er dachte manchmal daran, dass es besser gewesen wäre, wenn er verschollen geblieben wäre.
    Seinen Eltern erzählte er nie von diesen Gedanken, denn in seiner Verzweiflung war er sich manchmal sicher, dass auch sie so über ihn denken mussten. Sein Vater war versunken in seinen eigenen Schuldgefühlen und ließ sich durch nichts davon abbringen. Seine Mutter brach unter der Trauer fast zusammen. Jeder Einzelne von ihnen war davon überzeugt, die Schuld daran zu tragen, was passiert war. Zwischen ihnen herrschte ein seltsames Schweigen, das lauter hallte als Schreie. Erlendur kämpfte seinen Kampf allein und quälte sich mit seinen Gedanken über Verantwortung, Schuld und Glück.
    Wenn er nicht gefunden worden wäre, hätten sie dann vielleicht

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