Engelssturz - Zahn, T: Engelssturz - Angelmass
nicht übrigens auch noch am Senamaec arbeiten?«
Schon wieder huschte dieser Ausdruck über ihr Gesicht. »Ja«, sagte Ornina.
»Dann wäre das also geklärt.« Hanan sah Chandris an. »Also schnappen wir ihn uns, bevor uns noch jemand zuvor kommt.«
Ein Fahrzeug, das wie ein abgesägter LKW aussah, wartete vor dem Tor. »TransTruck«, identifizierte Hanan ihn, als er ihr das Tor öffnete. »Ist im Prinzip ein Taxi, nur dass es sich im Privatbesitz von Gabriel befindet und kein Allgemeinbesitz ist. Taste Vier auf dem Fon, falls du mich kontaktieren musst.«
Chandris nickte geistesabwesend; in Gedanken war sie noch immer bei Ornina. Sie hatte diesen Blick vor zwei Tagen schon einmal gesehen, als sie ihr einen Job angeboten hatten.
»Alles klar bei dir?«
Sie wurde aus den Gedanken gerissen und erkannte, dass sie den Bereich des Betriebshofs schon verlassen hatten. »Entschuldigung«, murmelte sie und ärgerte sich, weil sie sich hatte ablenken lassen. »Ich hatte mich nur … etwas gefragt.«
»Wegen dieser kleinen Szene, kurz bevor wir aufgebrochen sind?«
Sie sah ihn an und verspürte ein eigentümliches Gefühl im Bauch. »Ja, deswegen.«
»Mach dir deshalb keine Gedanken«, beruhigte er sie. »Das hatte nichts mit dir zu tun. Ornina ist nur der Ansicht, dass ich keine so schweren Gegenstände wie Conduyner-Spulen heben sollte. Das ist alles.«
Chandris sah zu ihm hinüber. Auf die Enden der Exoprothesen, die zwei Zentimeter aus den Hemdsärmeln hervorragten …
»Das ist eine degenerative Nervenkrankheit«, sagte er. Seine Stimme klang zwar sehr sachlich, aber Chandris sah dennoch, dass er die Lippen zusammenpresste. »Sie hat mich vor … äh … einundzwanzig Jahren erwischt und nagt seitdem an Armen und Beinen. Ist aber nicht ansteckend, möchte ich noch dazu sagen.«
»Das hatte ich auch nicht befürchtet«, sagte Chandris.
»Ich weiß. Überhaupt ist es eher lästig als sonst etwas, und du siehst ja selbst, wie ich damit umgehe. Die Exoprothesen gleichen die Schwächung der Muskulatur aus und übernehmen zugleich die Funktion von Nervenleitern zu den Händen und Füßen. Sonst könnte ich sie kaum noch bewegen und hätte auch kaum noch ein Gefühl darin.«
»Können sie denn sonst nichts tun? Die Ärzte, meine ich.«
»Ja, es gibt wahrscheinlich irgendwelche Nerven-Implantate oder so etwas in der Art. Ist aber eine Verschwendung von Zeit und Mühe.«
»Und von Geld?«, fügte sie spontan hinzu.
Er hob eine Augenbraue. »Für jemanden, der sich selbst nicht einmal für würdig befunden hat, eine Anstellung zu bekommen, bist du aber ziemlich intelligent.«
»Wer hat denn gesagt, dass ich mich nicht für …?«, fragte Chandris entrüstet.
Plötzlich kam ihr die Erkenntnis, und sie verstummte. »Du hast gerade das Thema gewechselt, nicht wahr?«
Er grinste. »Nun ja, ich hab’s versucht.« Das Grinsen verschwand, und er wurde wieder ernst. »Gabriel behandelt seine Leute mehr als anständig, Chandris, aber das hier dürfte klar eine Nummer zu groß für ihn sein. Im Gegensatz zu deinen stereotypen Großkonzernen erreicht er mit seinem Geschäft gerade einmal die Gewinnschwelle.« Er grinste wieder kurz. »Eines dieser wunderbaren Gleichgewichte, die sich bei der Arbeit mit Engeln einstellen. Ganz egal, wie selten oder wertvoll die Dinge sind – die Leute, die sie umschlagen, füllen sich nicht auf Kosten der anderen die Taschen.«
»Was ist mit eurem Extra-Engel?«, fragte Chandris. »Könntet ihr den denn nicht verkaufen?«
Er zögerte. Nur für einen Sekundenbruchteil, aber das genügte auch schon. »Er würde nicht genug einbringen.«
»Ich dachte, Ornina hätte gesagt, du würdest nie lügen.«
Er sah sie von der Seite an. »Du bist wirklich intelligent. Das war auch keine Lüge, sondern eine – nun ja, eine kreative Umschreibung der Wahrheit.« Er holte tief Luft. »Weißt du, Chandris, ich bin der einzige Familienangehörige, den Ornina noch hat. Sie hat ihr halbes Leben damit verbracht, sich um mich zu kümmern; zuerst hat sie mich in der Schule unterstützt, und dann hat sie mir geholfen, mich mit meiner Krankheit zu arrangieren. Irgendwie hatte sie darüber nie die Zeit und das Geld, eine eigene Familie zu gründen.«
Und plötzlich machte es Klick bei ihr. »Habt ihr mich aus diesem Grund in die Gazelle eingeladen?«, wollte Chandris wissen. »Damit sie so tun kann, als ob ich zu ihrer Familie gehören würde?«
»Stört dich das denn?«
Chandris biss sich auf die Lippe.
Weitere Kostenlose Bücher