Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
entlang.
Als sie den Kopf hob, sah sie die Wand des Swanti hoch und steil vor sich aufragen. Davor einen großen Schwarm Möwen. Laut keifend mit Schreien, die wie Warnung und Schlachtruf zugleich klangen.
Was es war, worauf sie unablässig in pfeilschnellem Sturzflug niederstießen, erkannte sie nicht.
Wollte es nicht erkennen. Auch nicht, nachdem sie die nächsten Schritte getan hatte.
Bitte nicht, flehte sie. Bitte nicht!
Ich will nicht. Ich will nicht hingehen und nachsehen, was dort liegt. Ein Tümmler vielleicht. Eine Robbe. Ein Schaf. Ein Kalb.
Du musst! Die innere Stimme war deutlich und scharf. Tümmler und Robben haben keine Arme. Schafe und Kälber auch nicht.
Das, was dort bleich mit wie zu einer letzten Berührung gespreizten Fingern im Sand liegt, kannst du nicht den Möwen zum Fraß überlassen.
Sie starrte auf die Tote, von der die Vögel nicht abließen. Wie in einem Panzer gelähmt stand sie vollkommen still, bis etwas die Regie übernahm, das sie nicht kannte. Das wie eine Maschine arbeitete. Dem das zerstörte Gesicht und die bleiche Kälte des Körpers egal war. Das mechanisch Stein um Stein auf den Leichnam packte und dann warten konnte, bis an dieses Weltende Hilfe kam.
»Je länger ich da saß, umso unwirklicher wurde alles. Die Geräusche, die Farben … Es war, als würde ich mich auflösen … Auflösen und von einem Strudel ins Nichts gezogen …«
Anita Burgwald war anzumerken, wie sehr ihr die Erinnerung zusetzte. Sie tastete über die Bernsteinkette an ihrem Hals, als suche sie Trost bei einem Talisman. Es kostete sie Überwindung weiterzusprechen. »Das Schlimmste war ihre Stimme. Ich hörte die ganze Zeit ihre Stimme. Genau so, wie sie im wirklichen Leben war. Ruhig und fest und zuversichtlich. Trotzdem hab ich mich zu Tode gefürchtet. Es war wie ein schrecklicher Traum, aus dem ich einfach nicht herausfinden konnte.« Sie lächelte unsicher. Die Scham darüber, sich wie eine Wahnsinnige aufgeführt zu haben, war stärker als die Erinnerung an die Angst.
Schöbel nickte verständnisvoll. »Bei einem Schock kann die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit schnell brüchig werden. Es ist, als ob die Realität sich auflöst.«
Anita Burgwald seufzte dankbar. So ungefähr hatte es sich angefühlt.
»Sie kannten die Tote, nicht wahr?« Die Schlussfolgerung lag nahe. Woher sonst sollte Anita Burgwald wissen, wie Wandas Stimme klang.
»Ja, natürlich. Habe ich das nicht gesagt?«
Pieplow verneinte mit einem Kopfschütteln. Er brauchte nicht erst in sein Notizbuch zu sehen. Davon, dass die Frauen sich gekannt hatten, war nie die Rede gewesen.
»Seit Jahren gehe ich zu ihr. Sehen Sie …« Anita Burgwald streckte beide Hände über den Gartentisch. Die Finger waren rot und knotig an den Gelenken. »Arthritis, sehr schmerzhaft. Aber seit ich zu Wanda gehe, kann ich es aushalten.« In Zukunft würde sie die Schmerzen wieder ertragen müssen. Als ihr das bewusst wurde, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Betretenes Schweigen machte sich breit. Pieplow trank einen Schluck von dem Kaffee, der kalt und bitter in seiner Tasse vor ihm stand. Schöbel räusperte sich.
Siegfried Burgwald stützte sich schwer auf den Tisch, um aufzustehen. Er wollte, dass sie gingen. Dass sie seine Frau in Ruhe ließen und sie aufhörte zu weinen. »Sie muss auf andere Gedanken kommen, das sehen Sie doch.« Er wolle nicht unhöflich sein, aber jetzt war es genug.
»Hat denn niemand gesehen, wie es passiert ist?« Burgwald stellte die Frage erst, als sie außer Hörweite seiner Frau zum Polizeiwagen gingen.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Schöbel, ohne den Blick vom Weg zu nehmen. »Bislang hat sich keiner gemeldet.«
6
Manthey hatte nichts darüber gesagt, wo Harri mit der Arbeit anfangen sollte. Also entschied er, an der Südwestecke des Grundstücks zu beginnen. Möglichst weit ab vom Hügelweg, über den die anderen zur Siedlung hinübergingen, wenn sie bei Jettes Großmutter Waffeln futtern wollten. Oder Eis. Verschiedene Sorten in pferdeapfelgroßen Kugeln. Wenn man wollte, sogar mit Sahne aus der Sprühflasche.
Während Harri seine Arbeitsutensilien auf dem schmalen Stichweg zwischen Mantheys und dem Nachbargrundstück zum Einsatzort schleppte, malte er sich die Genüsse aus, die ihm entgingen.
Er seufzte.
Es war zwar nichts Ehrenrühriges, die endlosen Zaunreihen anderer Leute zu streichen, aber doch besser, nicht dabei gesehen zu werden. Es sei denn, man hatte, wenn die
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