Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Spötter auf der Bildfläche erschienen, schon etwas vorzuweisen, das ihnen Respekt abnötigte. Ein lässiger Spruch über Arbeit, die ein Klacks war und reichlich Kohle brachte, war ganz klar eindrucksvoller, wenn der größte Teil davon schon erledigt war.
Harri breitete Zeitungspapier aus und schob es unter den Zaun, der so neu war, dass Drahtbürste und Schmirgelpapier fast überflüssig waren. Als er den Kanister öffnete, um sich seine erste Arbeitsportion abzufüllen, sog er den scharfen, chemischen Geruch der Holzlasur ein. Dann begann er zu streichen. Mit jedem Pinselstrich merkte er mehr, wie gut es ihm tat, hier zu sitzen und seine Ruhe zu haben. Seine Gedanken zu ordnen, die wie aufgeschreckte Hummeln durch seinen Kopf schwirrten. Von Wanda und dem Schrecklichen, was mit ihr passiert war. Weiter zu Mama, die bestimmt traurig war und ihn trotzdem trösten würde, wenn er sich wie ein Kleinkind in ihre Arme flüchtete. Was natürlich überhaupt nicht in Frage kam. Zurück zu Wanda. Zu den Erinnerungen, die in ihm aufstiegen. So deutlich und lebendig, dass ihm die Kehle eng wurde und er plinkern musste, damit die Augen nicht so brannten.
Wanda hatte zu seinem Leben gehört, seit er denken konnte. Seine allerersten Wege war er zu ihr gegangen. Ganz allein, ohne seine Mutter oder sonst wen, der ihn an der Hand hinter sich herzog und ihn einen trödeligen Trankopp schalt, den man immer und überall antreiben musste.
Erwachsene hatten es immer eilig, das lernte er früh. Weil sich im Sommer ihr Leben um die Urlauber drehte und im Winter die Zeit kaum reichte, alles für die nächste Saison vorzubereiten.
Wanda hatte keine Gäste. Wanda hatte Zeit.
Für Geschichten von Störtebecker und seinem Versteck in der Hucke, von Zwergen und Hexen, deren Tanzberg er sah, sobald er das Dorf verließ.
Zeit, um am Strand oder im Wald auch das kleinste Wunder noch zu entdecken. Algen, die wie Feenhaar schwebten oder blasig und schwabbelig im Flachwasser dümpelten. Käfer mit furchterregenden Zangen und winzige Ameisen unter der gewaltigen Last ganzer Zweige. Kreisrunde Löcher im Waldboden, aus denen, ehe man sich’s versah, Trolle herauskrabbeln konnten. Vielleicht, um einen furchtsamen kleinen Jungen zu erschrecken, vielleicht auch nur, um den Elfen zuzuschauen, die zu tanzen begannen, sobald die Menschen den Wald verließen.
Am Anfang war alles eins gewesen. Seeräuber und Hexen, Elfen und Trolle und die Engel, von denen Wanda erzählte. Michael, der Ritterengel mit dem blauen Lichtschwert, und sein Kumpel Raphael, die zusammen stark genug waren, auch das böseste Böse von Menschen fernzuhalten. Jeremiel, der Prophet, und Uriel, der Helfer in ausweglosen Lagen.
Nach und nach kam Harri dahinter, dass sie es ernst meinte. Nicht mit den Trollen und Elfen, aber sehr wohl mit den Engeln.
»Hör bloß auf mit dem Quatsch!«, hatte sein Vater geschnauzt, als Harri eines Tages beim Abendbrot von Wandas Engeln erzählte.
»Manfred, bitte …«, mahnte seine Mutter so vorsichtig wie immer, wenn sie hoffte, ihr Mann werde friedlich bleiben.
»Manfred, bitte …«, äffte er sie nach. Mit vollem Mund und einem Blick, der nichts Gutes verhieß. »Wenn dir egal ist, womit die alte Hexe dem Bengel das Hirn vernebelt – bitte! Aber mir nicht! Ich will diesen Blödsinn nicht hören, ist das klar?«
Harri duckte sich stumm über seinen Teller. Eben war er noch hungrig wie ein Wolf gewesen, jetzt schmeckte es ihm nicht mehr.
»Antworte gefälligst, wenn ich dich was frage, zum Donnerwetter!«
Harri fühlte, dass seine Stimme klemmte vor Angst. »Ist klar, Papa«, quetschte er heraus. Gott sei Dank laut genug, damit die drei Worte als das durchgingen, was sein Vater eine vernünftige Antwort nannte.
Harri wollte nicht an Streit denken. Nicht an den damals beim Abendbrot, nicht an die vielen kleinen danach und erst recht nicht an den, der schlimmer gewesen war als alle anderen zuvor.
Er setzte seine Fußbank um und zog die Zeitung unter das nächste Zaunstück. Genau an die Stelle, wo eine Lücke in der sonst so dichten Hecke den Blick auf das Haus freigab. Es lag im oberen Teil einer makellosen Rasenfläche, von seinem Vater Woche für Woche perfekt gemäht und an Sommerabenden verschwenderisch aus leise surrenden Sprinklern gewässert. Das breite Strohdach mit den Schmetterlingsgauben war weit über die Hauswand herausgezogen. Es schien mit seinem Gewicht auf den Säulen rechts und links der Veranda zu ruhen, von der drei
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