Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Schleicht sich an und sondiert die Lage. In den Keller, durch die Waschküche bis zur Tür gegenüber der Küche.
Vorsichtig drückte Harri die Klinke herunter. Er hielt die Luft an, als könnte er auch jedes andere Geräusch verhindern, wenn er nicht atmete.
Sein Vater stand an die Spüle gelehnt. Mit finsterem Blick, die Fäuste in die Seiten gestemmt.
Seine Mutter saß am Tisch. Ihre Schultern zuckten und ihr Gesicht sah aus, als habe sie furchtbare Schmerzen. Hinter der Hand, die sie gegen ihren Mund presste, drang Schluchzen hervor.
Harri hielt es kaum aus in seinem Versteck. Jemand sollte sie trösten. Aber sein Vater rührte sich nicht von der Stelle. Stand nur da und glotzte stur ins Leere.
Keiner sagte ein Wort.
Auch die Polizisten machten keine Anstalten, ihr ein Glas Wasser zu bringen oder sonst irgendwas zu tun, das sie beruhigte. Der Sheriff hockte auf seinem Stuhl und drehte bedröppelt seine Uniformmütze zwischen den Fingern. Auch der in Zivil schwieg. Saß da und wartete, bis das Schluchzen von allein leiser wurde. Was für ein Gesicht er machte, konnte Harri nicht sehen. Nur einen breiten Rücken und einen Hinterkopf mit krausem rötlichen Haar.
»Und es ist wirklich Wanda?« Harri hörte die Hoffnung in der Stimme der Mutter. Womöglich lag hier nur ein furchtbarer Irrtum vor und die ganze Aufregung war umsonst. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass niemand wusste, wo Wanda war.
»Ich fürchte, wir müssen davon ausgehen, ja.« Der Rothaarige führte das Wort. Hundertprozentig legte er sich nicht fest, aber er klang seiner Sache ziemlich sicher. »Die Hiddenseer Kollegen haben keine Zweifel, dass es sich bei der Toten um Ihre Tante handelt. Letzte Gewissheit werden wir erst haben, wenn die gerichtsmedizinischen Untersuchungen abgeschlossen sind. Aber, wie gesagt, das ist …«
»Ich will sie sehen!«
Harris Aufmerksamkeit hatte Schöbels Stimme gegolten. Der ruhigen, routinierten Art, mit der sie das Unabänderliche aussprach. Jetzt schnellte sein Blick zu seiner Mutter hinüber. Ihre Entschiedenheit überraschte nicht nur ihn. Auch ihr Mann sah sie verdutzt an. Er ließ die Arme sinken und es schien, als wollte er auf seine Frau zugehen.
»Wir können die Angehörigen natürlich nicht daran hindern«, stellte Schöbel klar. »Aber ich glaube, es wäre kein schöner Abschied. Besser, Sie behalten Ihre Tante so in Erinnerung, wie Sie sie kannten.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Schöbel zögerte einen Moment und atmete tief ein, bevor er antwortete. Es hilft ja nichts, schien dieser Atemzug zu sagen. Immer noch besser, sie erfährt es von mir als in irgendwelchen dramatischen Versionen sonst woher. »Sie ist sechzig Meter in die Tiefe gestürzt. Schon dabei hat sie sich erhebliche Verletzungen zugezogen. Aber bis man sie heute Morgen fand, sind dann noch mehrere Stunden vergangen und so hat Tierfraß den Leichnam noch weiter zerstört.«
Harri riss den Mund auf. Er taumelte in einem stummen Schrei. In letzter Sekunde umklammerte er das Treppengeländer, sonst wäre er rückwärts hinab in den Keller gestürzt.
In der Küche polterte ein Stuhl zu Boden. Jemand rannte. Eine Tür fiel ins Schloss. Trotzdem war das Stöhnen und Würgen aus dem Gästeklo neben dem Eingang so laut, dass es Harri schauderte.
»Das habt ihr ja prima hingekriegt«, hörte er die Stimme seines Vaters. Wütend und vorwurfsvoll. »Nachdem ihr eure Nachricht so überaus vorsichtig überbracht habt, ist es wohl das Beste, wenn ihr jetzt verschwindet.«
Schöbel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Es gab eine kurze Pause, bevor er sagte: »Es tut uns aufrichtig leid, Herr Graber. Aber wir halten uns wenigstens an die Fakten. Das ist eine Mühe, die sich nicht alle Nachrichtenübermittler machen, das können Sie mir glauben.«
»Und wenn schon. Ich will, dass ihr jetzt geht, damit ich mich um meine Frau kümmern kann.«
Wer’s glaubt, wird selig, dachte Harri. Aber es hört sich gut an. Und es erfüllt seinen Zweck. Einem Mann, der sich um seine Frau kümmern muss, würden keine unangenehmen Fragen mehr gestellt.
Er schlich rückwärts die grauen Zementstufen wieder nach unten. Am liebsten wäre er weggelaufen. Zu Wanda, fiel ihm ein, auch wenn das so unvernünftig war wie nur was.
Von dort, wo sie jetzt war, konnte sie ihn nicht mehr trösten. Niemand konnte das. Nicht einmal Wanda.
Vornübergebeugt saß er auf den kalten Stufen, die Arme um den Leib geschlungen, als habe er Bauchschmerzen.
Über sich
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