Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Deshalb haben unsere Vorfahren solche Plätze gesucht, sie geweiht und geheiligt.« Sie machte eine Pause und sah Pieplow mit großer Ernsthaftigkeit an. »Und weil für Wanda der Swanti ein solcher Ort war, kann sie sich dort nicht umgebracht haben. Unvorstellbar, dass sie ihn durch etwas so Zerstörerisches entweiht hätte.«
Pieplows Vorstellungsvermögen sträubte sich, diesen mystischen Pfaden zu folgen. Er gab diesseitigen Erklärungen den Vorzug. Dass, ganz praktisch gesehen, Grabstätten besser keinen Platz beanspruchen sollten, der sich anderweitig besser nutzen ließ. Zum Wohnen, zum Beispiel. Oder für Ackerbau und Viehzucht. Wohin also mit den Toten auf einer Insel, die vor eben diesen zweitausend Jahren nur wie ein kleiner Buckel aus dem Meer ragte? Auf der der Platz knapp war, weil das flache Grasland in den nächsten Jahrhunderten erst angeschwemmt werden musste. Ganz an den Rand mit ihnen, sollte man meinen. Und zwar möglichst hoch, damit nicht die nächste Sturmflut schon zum Grabräuber werden und mit sich reißen würde, was auf die letzte Reise mitgegeben wurde. Gefäße, Schmuck, Werkzeug.
Das war, was blieb, dachte Pieplow. Keine Botschaften aus dem Universum, keine beredten Geister. Nichts, was sich beschwören ließ. Nur ganz und gar unbeseelte Dinge, die dann und wann als Zeugen einer längst untergegangenen Welt ans Tageslicht kamen.
»Ich habe, ehrlich gesagt, noch nicht verstanden, was genau Wanda dort gemacht hat«, sagte er und dachte an Tänze in Trance, an unbedachte Bewegungen, bei denen eine ältere Dame schnell die Balance verlieren konnte.
Marie sah ihn an, als wüsste sie, was ihm durch den Kopf ging. »Jedenfalls nichts Gefährliches, wenn du darauf hinauswillst. Sie hat es wie eine Meditation beschrieben. Wie ein Sich-Öffnen und Auftanken mit Energie für sich selbst und für andere. Dass sie dabei gestürzt oder gestolpert sein soll, ist ziemlich …« Sie hielt erschrocken inne. Kein Selbstmord, kein Unfall. Ihr war plötzlich klar, worauf es hinauslief, wenn beides nicht in Frage kam, aber sie sprach es nicht aus. »Es ist einfach furchtbar«, sagte sie nur und lehnte sich an ihn, als er ihr tröstend den Arm um die Schulter legte.
Sie fühlte sich gut an. Warm und fest, und ihr Haar roch nach Pfirsich. Früher war es lang gewesen und meist im Nacken zusammengebunden. Pieplow hatte den schweren dunklen Zopf gemocht und sich an den Bubikopf erst gewöhnen müssen.
Pieplow genoss den Augenblick. Schwieg, hielt Marie im Arm und erörterte im Stillen, ob er sie nicht einfach küssen sollte. Wenigstens aufs Haar. Oder, besser noch, auf die samtweiche Haut im Nacken. Irgendwann würde er es einfach tun. Eine Gelegenheit wie diese nutzen und dann sehen, was passierte.
Irgendwann, wie gesagt. Aber nicht jetzt. Jetzt schoben sich die Ereignisse des Morgens wieder in seine Gedanken und verlangten eine Erklärung.
Wer hätte sie töten sollen? Und vor allem: Warum?
»Weißt du, ob sie Feinde hatte?« Er nahm in Kauf, dass Marie sich aufsetzte und ein Stück von ihm abrückte.
»Wanda?« Sie sah ihn an, als habe er eine sehr abwegige Frage gestellt. »Das glaube ich nicht. Es gab wohl manche, die lieber nichts mit ihr zu tun haben wollten, aber Feinde? Womit soll sie sich Feinde gemacht haben?«
Pieplow dachte an Kurpfuscherei, an fehlgeschlagene Behandlungsversuche. An die Wut eines Verzweifelten, dem nicht geholfen worden war. »Hätte ja sein können, dass sie mal irgendwas in dieser Richtung erzählt hat.«
»Nein, hat sie nicht.« Marie schüttelte nachdenklich den Kopf.
Schade, dachte Pieplow, der sich einen ersten Ansatzpunkt wünschte. Irgendwas, an dem sein siebter Sinn andocken konnte, anstatt in nebulösen Spekulationen durch seinen Kopf zu wabern.
8
Fahlweißes Licht zuckte von weither im Norden über den Himmel. Ergoss sich in das Nachtblau über der Insel und verrann hinter dem Horizont.
Eine stumme Fanfare aus einer anderen Welt.
Einem hellen quiekenden Pfeifen im Liguster unter dem Fenster folgte ein hastiges Rascheln, als gäbe es etwas in Sicherheit zu bringen. Sich selbst. Die Brut. Oder die Ausbeute einer listigen Jagd im grauen Sand unter der Hecke.
Wanda hält sich nicht damit auf, nach dem Jäger und Pfeifer zu suchen. Sie hat Wichtigeres zu tun in den wenigen Stunden bis Sonnenaufgang.
Sie kommt nicht allein. Aber die sie begleiten, bleiben ein paar Schritte hinter ihr. Wie Wachen, die ihr jederzeit zu Diensten stehen. Als bräuchte es nur
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