Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
hörte er Schritte. Dann, dass die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Kurz darauf den Motor des Streifenwagens.
Er rührte sich nicht von der Stelle. Starrte vor sich auf die Wand mit den Garderobenhaken und horchte hinauf in die Küche. Wenn das Geschrei, auf das er wartete, so arg wurde, dass auch Ohrenzuhalten nichts mehr nutzte, würde ihm schon einfallen, wohin.
Etwas an der Wand gegenüber stimmte nicht.
Mit dem Gefühl, in seinem Gehirn komme etwas nicht an, was seine Augen längst gesehen hatten, ließ er seinen Blick noch einmal die Kleiderhaken entlanggleiten. Mamas Gartenkittel. Die Weste, die sie darüber trug, wenn es kalt war. Ein schlammbraunes filziges Wollding, das früher seiner Großmutter gehört hatte. Daneben seine eigenen Regensachen, ein alter Anorak, eine Öljacke. Dann drei Haken, an denen hing, was sein Vater zur Arbeit anzog. Blaumann, Joppe, Regenhose.
Jetzt wusste er, was er sah. Oder vielmehr, was er nicht sah. Es fehlte die schwedische Jacke, die blaue mit den gelben Streifen an Saum und Ärmeln, so ähnlich wie an den Einsatzjacken amerikanischer Feuerwehrleute.
Harri hatte auch so eine gehabt. Kleiner natürlich, damit sie einem Steppke von fünf oder sechs Jahren passte. Er hatte sie noch getragen, als die Ärmel längst nicht mehr bis zu den Handgelenken reichten, so stolz war er gewesen. Auf sich in seiner Feuerwehrjacke. Auf seinen Vater, der konnte, was keiner der anderen Väter konnte: Einen riesigen Lastzug quer durch Europa lenken. Von Rostock nach Odessa. Von Berlin bis Kiew. Von Leipzig nach Stockholm. Harri war aufgeregt wie noch nie in seinem Leben gewesen, als es hieß, sie durften mit. Mama und er. Ausnahmsweise. Es ging nur nach Malmö und wieder zurück. Die meiste Zeit verbrachten sie auf der Fähre.
Keine Minute dieser Fahrt hatte er vergessen. An das ungeduldige Warten auf dem Parkplatz vor Bergen erinnerte er sich und an die Fahrt zum Fährhafen Sassnitz hoch über popelig kleinen Autos, in die man von oben hineinsehen konnte. Wenn er die Augen schloss und sich zurückversetzte, spürte er das Rumpeln und Rütteln bei der Auffahrt auf die Fähre. Er hörte die Kommandos der Besatzung, das Rufen und Fluchen der anderen Fahrer. Im Schiffsbauch roch es nach großen Maschinen, nach Schmierfett und Diesel und Gummi.
Von Malmö hatten sie nicht viel gesehen und doch diese Jacken entdeckt. Vor einem Laden für Segler hatten sie gehangen. In riesengroß und sehr klein.
Genau das Richtige für einen Kapitän der Landstraße und seinen Sohn.
So gut gelaunt wie damals war sein Vater lange nicht mehr gewesen. Genau genommen seit dem Tag vor zwei Jahren nicht mehr, als er vor dem verschlossenen Betriebshof gestanden hatte. Schluss und aus für Trans Vineta, für tausend Menschen und dreihundert Lastzüge.
Seitdem war das große fremde Leben seines Vaters zusammengeschnurrt auf Handlangerarbeiten und Rasenmähen in ein paar Inselgärten. Und seitdem war die schwedische Jacke nicht mehr zwischen Stockholm und Odessa unterwegs. Sie kam höchstens, wenn es kühl war, beim Heckeschneiden zum Einsatz.
Sonst hing sie hier an diesem Haken.
Harri spürte plötzlich ein Kribbeln unter der Haut wie von Ameisen, die in seinen Adern hinaufliefen bis zum Hals. Er wusste, wann und wo er die Jacke zuletzt gesehen hatte. Ganz genau sogar, denn sie hatte ihm gestern Nacht einen gehörigen Schrecken eingejagt. Drei Kreuze hatte er gemacht, dass er sich tief genug ins Gebüsch gedrückt hatte, als oben im Klausner das Licht noch einmal angegangen war. Sonst hätte sein Vater ihn gefunden. Viel hatte nicht gefehlt. Nur die drei, vier Meter, die zwischen Wald und Gasthaus lagen.
Er hatte kaum zu atmen gewagt und mehr als alles andere gefürchtet, an Ort und Stelle verdroschen zu werden. Sein Herz hatte ihm bis zum Hals geschlagen und seine Knie waren noch quallenweich gewesen, als die Gefahr längst vorüber war. Ein paar Mal hatten die gelben Streifen noch wie große Glühwürmer zwischen den Bäumen aufgeleuchtet, dann waren sie Richtung Hochuferweg verschwunden.
Wo war die Jacke jetzt? Warum war sie nicht dort, wo sie hingehörte?
Die Fragen machten ein komisches Gefühl. Ein Stechen und Bohren hinter den Augen und ein hohes, warnendes Pfeifen im Kopf.
Da war noch etwas, für das es keine Erklärung gab.
Warum hatte sein Vater nicht auf ihn gewartet? Nicht oben in der Küche gehockt, geraucht und getrunken und sich seinen Sohn vorgeknöpft, sobald er die
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