Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
möglich gehalten hatte. Bevor er mit der Waffe in der Hand auf einen Mann starrt, der mit ausdruckslosem Gesicht zusieht, wie alles sich rot färbt. Der schäbige Teppich, Pieplows Hand, als er sie auf die Wunde presst, sein Hemd, seine Hose.
Pieplows Atem geht hektisch und flach. Ihn überflutet eine solche Schwäche, dass er nichts anderes wahrnimmt als die nächste ausgetretene Stufe vor seinen Füßen. Deswegen merkt er erst kurz vor dem Ziel, dass etwas anders ist als sonst. Dass im Stiegenhaus nicht der stockige Mief von Schimmel und billigem Essen hängt, in den sich gleich ein rostiger Blutgeruch mischen wird.
Erst als er die letzte Kehre der Treppe hinter sich hat, als es nur noch geradeaus nach oben geht, erkennt er, dass er sich auf den freien Himmel zubewegt. Tausende von Sternen sieht er. Einen kalten, vollen Mond, dessen totes Licht über das reglose Meer fließt.
Eben noch drohte sein Herz zu zerspringen. Jetzt steht es einen Wimpernschlag lang still. So still wie Himmel und Meer. So still wie das Gras, in dem er keinen Schritt mehr machen kann, weil jemand die Welt angehalten hat.
Wanda.
Er sieht sie erst, als er das vertraute Pochen in seiner Brust wieder spürt. Als ein leichter Windhauch das Wasser kräuselt und über die Gräser streicht, bis sie sich leise wiegen.
Es wird Zeit, dass du kommst.
Pieplow fühlt mehr, als dass er hört, was Wanda sagt. Er blinzelt, weil der Lichtschein ihn blendet, in den sie gehüllt ist. Sie steht so nah am Kliffrand, dass er die Arme ausstreckt, um sie zu halten. Erschrocken weicht er zurück, als er sieht, dass er sie damit auf den Abgrund zutreibt.
Es wird Zeit, dass du kommst, sagt sie noch einmal. Es ist deine Aufgabe, und niemand kann sie dir abnehmen. Niemand sonst kann sie erfüllen. Nur du.
Das bleiche stumme Flackern am Himmel verebbte in der ersten Ahnung von Morgenlicht, als Pieplow erwachte. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah hinüber zum Fenster.
Wetterleuchten, stellte er fest und nahm das als Erklärung für die verwirrende Änderung seines furchtbarsten Traums.
In den stacheligen Zweigen des Sanddorns, zwischen silbrigen Blättern und orange leuchtenden Früchten verborgen, schlug der Sprosser seine dritte Strophe an. Nach der melancholisch klagenden des ersten Morgengrauens, nach dem Schmelz glücklicher Zaubertöne zum Purpur der frühen Himmelsröte schmetterte er jetzt seine Fröhlichkeit in den Morgen. Ein junges Männchen aus der diesjährigen Brut. Laut und schön, aber noch nicht perfekt. Erst im nächsten Jahr, im Rausch des Frühlings, würde es zeigen, was in ihm steckte. Im Kampf und in der Liebe. Aus voller Brust. Unermüdlich.
Über Fritz Niemanns Gesicht huscht ein halbes Lächeln. Schief und ungeübt verzieht es den alten, runzeligen Mund, in dem nur im Schlaf keine Pfeife klemmt.
Gefühlsduselige Grinserei liegt ihm nicht. Noch weniger als das Reden. Aber jetzt lächelt er. Er kann nicht anders. Wanda verwandelt ihn. Er sieht ihr Gesicht über sich, die sonnenbraune Haut mit dem Hauch feiner Härchen. Da ist der Druck ihres Körpers auf seinem, ihr ganz eigener Duft nach Seife und Rosen. Sie schmiegt sich an ihn und flüstert Albernes.
Fischers Fritz fischt frische Fische...
Aale, Wanda. Keine Fische. Er lacht, weil ihr Mund so nah an seinem Ohr ist, dass es kitzelt.
Er ist nicht mehr jung. Zweiundfünfzig, um es genau zu sagen. Für die Jüngeren an Bord der Swantje längst der olle Niemann.
Für Wanda nicht. Für sie ist er ruhig und stark. Leidenschaftlich und sanft mit seinen Fischerpranken auf ihrem glatten, festen Körper, der sich windet und dreht vor Lust, wenn sie sich lieben. So wie jetzt.
Er atmet schwer. Er möchte sich auflösen in dem Gefühl, alles erlebt zu haben, was ein Mann erleben kann. Auf See und in der Liebe.
Und plötzlich weiß er, dass er den jungen Sprosser draußen vorm Fenster nur noch diesmal hört. Dieses eine letzte Mal.
Mit diesen Gedanken schlug Fritz Niemann die Augen auf. Er lauschte, wie in der letzten Strophe die Töne an Kraft und Fülle gewannen, um schließlich mit einem Wirbel heller Glockentöne zu enden.
Er lag ganz still. Er spürte Wanda noch über sich. Er roch ihren Duft und konnte unter seiner krumpeligen, schwieligen Hand sogar die Lust noch fühlen, für die es keine Erfüllung mehr gegeben hatte. Stark und glatt ragte sie aus dem grauweiß gestreiften Pyjamastoff.
Donnerwetter, dachte der olle Niemann und wartete zufrieden auf die Flaute,
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