EngelsZorn - Im Blutrausch
fallen ließ, empfand er als belustigenden Zeitvertreib. Nestor ging grundsätzlich mit der Mode, daher trug er auch immer die aktuellste Kleidung der Saison. Nicht nur die teuersten Designerklamotten hatte er im Kleiderschrank der Villa seines Vaters hängen, sondern auch die ausgefallensten Stücke. Oftmals ließ er sich sogar Einzelstücke anfertigen, die das Budget eines normalen Jugendlichen völlig gesprengt hätten und fernab von dessen Reichweite gelegen wären; aber nicht nur das: diese teuren Stücke hatten jede Vorstellungskraft eines Normalsterblichen weit überstiegen. Der unermessliche Reichtum seiner Familie war nur einer von vielen Gründen, warum er den Mädchen so imponierte und sie sich gerne mit ihm verabredeten. Im Gegensatz zu Jean war Nestor immer glattrasiert und er war auch derjenige, der Jeans Dreitagebart am meisten verlachte. Er hatte schmale, rote Lippen und eine kleine, rundliche Nase. Seine langen Wimpern zierten seine Augen und seine dichten, blonden Augenbrauen hatten dieselbe Farbe wie sein Haar. Auch Nestor besaß eine überaus männliche, hochgewachsene und muskulöse Statur. Er war jedoch noch einige Zentimeter größer als Jean. Nestor hatte ein besonderes Talent. Er konnte seinen Zynismus mit einem höhnischen Lachen hervorragend untermalen. „ Da muss ich echt mal Abhilfe schaffen! Sonst bist du mit vierzig immer noch Jungfrau!“
Jean war damals ziemlich verlegen gewesen und die Schamröte war ihm in Sekundenschnelle ins Gesicht geschossen. „Das geht dich gar nichts an! Vielleicht hab‘ ich ja schon eine oder zwei gehabt. Vielleicht sogar schon drei! Ich erzähl‘ es dir nur nicht! Das ist der Unterschied zwischen uns beiden!“, hatte er sich daraufhin gerechtfertigt.
„Wenn sich tatsächlich mal eine in dein Bett verirrt hätte, wüsste ich es, glaub‘ es mir! Und dass es nicht so ist, wissen wir beide! Aber ich, ich könnte dir eine Menge über Frauen erzählen. Ich könnte dir eine Menge beibringen...“
„Lass‘ mich jetzt mit deinen Weibergeschichten in Ruhe! Ich muss hier noch was tun!“, hatte ihn Jean schroff unterbrochen und sich wieder seinen Büchern zugewandt. Er war ziemlich gereizt. Zu sehr hatte er sich über Nestors spitze Bemerkungen geärgert.
„Na gut, dann wünsch‘ ich dir viel Spaß mit deinen Büchern! Ich halte im Gegensatz zu dir lieber die Brüste einer geilen Frau in der Hand anstatt den Einband eines langweiligen Buches! Aber wir sprechen uns noch, mein Freund. Das Thema mit der Jungfrau ist noch lange nicht vom Tisch!“ Nachdem ihm Jean nicht mehr geantwortet, sondern nur stumm in das vor sich liegende Buch hineingestarrt hatte, war Nestor gegangen. Nestor hielt nicht viel vom Lernen. Es war für ihn schlichtweg nur reine Zeitverschwendung. Er war in der Tat einer der faulsten Studenten der Uni. Vom Bibliothekar war er eines Tages sogar als Tunichtgut bezeichnet worden, nachdem er in dessen Bibliothek lautstark mit seiner Clique über Jean hergezogen war. Nestors Notendurchschnitt war dementsprechend auch nicht sehr überragend und oftmals hatte sein Vater dafür bezahlt, damit sein Sohn nicht die Universität verlassen musste. Natürlich war das nicht offiziell, denn hierfür hatte es diesen einen bestimmten Spendenfonds gegeben, der von der Universität nur zu diesem Zwecke eingerichtet worden war. Dank Nestor stand er zu manchen Zeiten sogar auf dem Höchststand.
Jean saß gerade über seinen Studienbüchern, die stapelweise auf dem ganzen Tisch verteilt lagen.
Es war schon früher Abend. Eine kleine Tischlampe mit grünem Lampenschirm beleuchtete seine aufgeschlagenen Seiten. Die Universitätsbibliothek war bereits verlassen und wirkte irgendwie gespenstisch. Die hohen Bücherregale warfen lange Schatten in die schmalen Durchgänge, die zwischen den Regalen nicht breiter als eineinhalb Meter waren. Es sah unheimlich aus, wenn man davorstand und in die dunklen Gänge hineinsah. Doch Jean liebte diesen Ort. In manchen Teilbereichen der Bibliothek war um diese Uhrzeit das Licht bereits vom Bibliothekar ausgeschaltet worden. Jean war der einzige Student, der sich in seiner Bibliothek noch aufhalten durfte, wenn er schon längst nach Hause gegangen war. „Also, ich pack’s für heute, Jean. Du weißt ja, Lichter aus und Schlüssel in meinen Briefkasten werfen, wenn du fertig bist! Und mach‘ nicht wieder die ganze Nacht durch! Übrigens, heut‘ ist Samstag, falls du das vergessen hast. Die Jugend amüsiert
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