EngelsZorn - Im Blutrausch
zwingen müssen, dort wieder hinzugehen. „Dir fehlt nichts, Jean! Mach‘ endlich, dass du aus dem Bett herauskommst! Zwing‘ mich nicht, dich mit Gewalt dort abzuliefern.“, hatte sie ihm damals angedroht. Jean hatte seine Mutter immer schon als für zu kalt empfunden. Gefühle zeigen oder aber gar Liebe geben, hatte sie nicht gekonnt. Sein Kindermädchen war wirklich die Einzige gewesen, der er sich grenzenlos anvertrauen konnte. Er hatte sie sehr gemocht. Unter Tränen hatte er ihr damals erzählt, was Nestor getan hatte. Daraufhin hatte sie ihn in den Arm genommen und stundenlang getröstet.
Nestor lachte Jean dreckig ins Gesicht. „Ich zähle jetzt bis drei. Und wenn das Buch dann immer noch aufgeschlagen da liegt, dann versprech‘ ich dir hoch und heilig, dass du morgen an jeder Ecke unserer Uni einen solchen Zettel an der Wand hängen siehst. Übrigens, ein tolles Gesuch. Es ist mir überaus gut gelungen! Findest du nicht auch?“ Nestor betrachtete den Zettel. „Und glaub‘ mir, du wirst es nicht schaffen, sie alle auf einmal abzuhängen. Vergiss‘ nicht, wir sind zu viert und du ganz allein!“ Nestor war felsenfest davon überzeugt, dass sein Freund das Buch zuschlagen würde, noch ehe er bis drei gezählt hätte. Es war nicht das erste Mal, dass er seine Drohungen wahr machte.
„Was, die anderen machen da mit?“ Jean sah ihn schockiert an.
Nestor nickte und begann zu zählen. „Eins... zwei...“
„Bitte, Nestor, sei vernünftig. Ich muss hier wirklich noch was für morgen fertig machen!“, unterbrach ihn Jean fast flehend.
„Ich lass‘ nicht mit mir verhandeln, Jean. Du kannst nicht mit mir feilschen! Entweder du gehst heute mit, oder du wirst morgen dein blaues Wunder erleben!“ Er begann wieder von Neuem zu zählen. „Eins..., zwei..., dr...“
Jean griff nach dem zweiten Zettel, zerknüllte ihn, warf ihn verärgert neben den ersten auf den Tisch und klappte resigniert sein Buch zu. Er kannte Nestor. Er wusste, er würde es wieder tun. Damals war er auf seine Drohungen nicht eingegangen, was er im Nachhinein zutiefst bereut hatte. Daher hatte er sich geschworen, einen solchen Fehler kein zweites Mal im Leben zu begehen.
Schon vor geraumer Zeit hatte er begonnen, Nestors äußerst widerlichen Charakter zu verabscheuen, der sich von Jahr zu Jahr zunehmend immer mehr ins Negative entwickelt hatte. ‚... wir passen einfach nicht mehr zusammen! Wir sind so grundverschieden!...‘, dachte er sich oft. Aber Jean kannte ihn nun mal schon seit seiner Kindheit, hatte aufgrund dessen nicht den Mut, ihm die Freundschaft zu kündigen, zumal sich Nestors Eltern mit seinen gut verstanden, und ließ sich deshalb immer wieder aufs Neue darauf ein. Nestor hatte die besondere Gabe, sich grundsätzlich bei ihm durchsetzen zu können. Vor allem aber erreichte er mit Erpressung bei Jean immer sein Ziel.
„Na also... komm‘ schon! Die anderen warten bereits auf uns. Dank dir gewinne ich übrigens meine Wette. Ich wusste, dass ich dich innerhalb von fünf Minuten davon überzeugen werde, mitzukommen. Die anderen dachten, ich bräuchte eine halbe Stunde dafür.“ Er lachte. Jean war von dessen Lachen ziemlich angewidert. Völlig angeekelt von Nestors Gelächter erhob er sich widerwillig von seinem Stuhl, steckte sich zwei Bücher in seinen Rucksack und stellte die anderen zurück in die Regale. Die beiden zerknüllten Zettel, die noch auf dem Tisch lagen, stopfte er ebenfalls in den Rucksack. Anschließend schloss er die Schnalle.
„Du weißt hoffentlich, dass das schon wieder Erpressung ist, was du machst?“ Er sah ihn angewidert an.
Nestor nahm Jeans verächtlichen Blick nicht im Geringsten wahr. „Natürlich, mein Freund, natürlich weiß ich das. Aber anders bekomme ich dich ja nicht los von deinen Büchern. Zuerst kam mir ja der Gedanke, eine nackte Frau hier anzuschleppen! Aber die hättest du am Ende womöglich vor lauter spannenden Seiten gar nicht bemerkt. Ich glaub‘, noch nicht einmal, wenn ich sie vor deinen Augen gevögelt hätte. Also musste ich mir was anderes einfallen lassen. Und dann ist mir plötzlich Lilli eingefallen und...“
„Ich habe dich dafür gehasst! Das hast du nur gemacht, weil du selber in sie verliebt warst...“, fiel im Jean ins Wort.
„Verliebt?“ , unterbrach er ihn und fing an höhnisch zu lachen. „Jeder war in Lilli verliebt. Nur ich nicht, mein Freund! Glaub‘ mir. Aber du wirst mir doch hoffentlich diesen dummen Jungenstreich nicht immer noch
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