Engpass
Straßenschuhe kein Profil haben.
»Vor 20 Jahren, sagten Sie.« Elsa schaut Degenwald an.
Der fährt sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe, nickt dabei. »Ungefähr«, bestätigt er.
»Und woher wissen Sie so schnell etwas über das Alter der Toten?« Elsa hat sich dem Gerichtsmediziner, einem ältlichen, hageren Mann mit grauer Walkjacke und Hut, zugewandt.
»Ein Scherz unseres lieben Degenwald«, lacht der. »Er übernimmt zwischendurch gern mal meinen Job. Prognosen, Vermutungen, Spekulationen.«
Elsa sieht ihren Kollegen erneut an. Eine Spur zweifelnd. Degenwald grinst. Wie ein Junge, dem ein guter Scherz gelungen ist.
»Unser lieber Dr. Degenwald garniert seinen Beruf gern mit dem ein oder anderen Anekdötchen. Sonst überlebt man diesen Job nicht, nicht wahr?« Der Arzt schlägt Degenwald kameradschaftlich auf die Schulter. Die Männer grinsen sich an, wie eine Verschwörergemeinschaft.
»Man hat schon so viel miteinander erlebt, aufgeklärt, zu den Akten gelegt, et cetera, et cetera. Sehe ich das richtig?«, kommentiert Elsa die Sache.
»So ist es«, kommt es unisono aus den Mündern der Männer. Dann lachen sie. Einträchtig.
Zu Hause wird Anna sich jetzt vor Langeweile mit Schokoladenpudding vollpumpen, denkt Elsa plötzlich. Pubertät ist eine schreckliche Zeit.
»Sie sind also die Neue«, unterbricht der Mediziner Elsas Gedanken.
Sie hält ihm die Hand entgegen. »Elsa Wegener. Aus Köln. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.«
»Angenehm, Michael Horn. Mich finden Sie in der Gerichtsmedizin in München. Aber das wissen Sie sicher schon.«
Elsa spürt einen festen Händedruck. Der Förster schließt sich an. Nennt seinen Namen, drückt die Hand, lüpft den Hut.
»Unser hochgeschätzter Dr. Horn liebt die Natur und leistet sich, sozusagen als Aufputz zu seiner Wohnung in München, eine Dependance in Marquartstein. Wir haben ihn also oft zur Verfügung«, klärt der Förster Elsa auf.
Degenwald indes frisst sich zwischen ihre Augen, genau an die Stelle, an der sie eine kleine Narbe hat. Sein Blick fährt darüber, streift sekundenschnell über das vernarbte Fleisch.
»Lassen Sie uns gehen«, meint er. »Bevor unser liebes Hörnchen«, er blickt Dr. Horn an, »nichts geleistet hat, können wir uns Zeit lassen. Also, auf geht’s!« Er presst Elsa mit der Hand auf ihrer Schulter Richtung Auto.
Dr. Horn ruft sie zurück.
»Nicht so schnell, Karl. Ich hab schon was zu sagen, ob du’s glaubst oder nicht.«
Degenwald hat sich erneut nach Hörnchen umgeblickt.
»Eine Moorleiche ist das Beste, was euch passieren konnte. Moor konserviert, eigentlich unbegrenzt.« Hörnchen deutet auf die Knöpfe, die man an den Überresten der Jacke der Toten erkennen kann. »Morgen machen wir ein CT und eine schöne toxikologische Untersuchung. Alles vom Feinsten. Dann wissen wir auch, ob dieses nette Exemplar hier«, er deutet auf die Tote, »schon tot war, als sie im Moor verscharrt wurde.«
»Also kannst du uns doch noch nichts sagen, Hörnchen. Jetzt lass uns halt gehen.« Degenwald hakt sich bei Elsa ein, als kenne er sie eine Ewigkeit, und verschwindet mit ihr Richtung Auto. Elsa lässt es geschehen. Ihre Schuhe sind schwarze Klumpen. Sie spürt, wie der Schlamm sich an ihren Knöcheln hinauffrisst. Degenwalds Arm ist ihre Versicherung gegen eine unfreiwillige Landung im Matsch.
»Ich möchte noch mit Ihnen sprechen, im Büro«, sagt Degenwald. Dabei lächelt er Elsa an, wie jemand, der es wirklich ernst meint.
Anna hockt auf dem Heizkörper der Videothek und sieht das Sortiment durch.
»Hey«, ruft sie dem jungen Typen hinterm Tresen zu. »Habt ihr ›Breaking the waves‹ von Lars von Trier?«
Der Junge, ungefähr 18, ziemlich pickelig und offenbar schwer von Begriff, schlurft näher. »Was?«, grunzt er Anna entgegen.
»Diesen Superfilm von Lars von Trier. ›Breaking the waves‹. Habt ihr den?«
»Na«, murmelt der Pickelige, ohne überhaupt nachzuschauen.
»Check das doch mal im Computer«, verlangt Anna und deutet auf den PC auf dem Tresen.
»Brauch i net«, weigert der Typ sich.
»Scheiße!«, tönt Anna genervt und hangelt sich von der Heizung. »Genauso hab ich’s mir hier vorgestellt. Danke für deine Hilfe!« Sie öffnet die schmierige Glastür und verschwindet hinaus. »Blödes Kaff, Hinterwaldprovinz«, schimpft Anna vor sich hin, als sie sich auf das klapprige Fahrrad schwingt, das sie neben dem Garten ihres Hauses gefunden und sich
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