Engpass
vermutet hat. Doch das innere Messer, das in Form von Gedanken so lange in sie hineingeschnitten hat, ist stumpf geworden. Nichts rührt sich mehr. Ihr Kopf steht still. Endlich. Nichts mehr im Hirn. Totale Leere. Nur noch Wasser. In Anna rauscht es wie im Aquarium. Ihre Ohren saugen sich voll. Wenn sie jetzt noch aufhört zu atmen, ist Frieden. Selige Ruhe. Genau das ist es, was sie will.
Elsa steht neben Degenwald im Flur.
»Übrigens«, beginnt er plötzlich, »wir sollten noch mal alle Aussagen abklopfen. Irgendwas haben wir übersehen. Was Silke Maihausers Tod anbelangt, meine ich«, fügt er an.
»Ja, das glaube ich auch. Irgendjemand lügt immer, nicht wahr?« Elsa kann es sich nicht verkneifen, diese spitze Bemerkung in seine Richtung abzuschießen.
»Ach ja, eins noch.« Degenwald hat seinen Mantel übergezogen und steht in der geöffneten Tür. Von draußen strömt kalte Luft herein. Elsa fixiert ihn gespannt.
»Schön war es bei Ihnen. Danke!« Damit dreht er sich um und verschwindet in die Dunkelheit. Die Außenbeleuchtung springt an und bescheint den Rücken eines gut aussehenden Verdächtigen. Elsa grinst leise vor sich hin.
»Und richten Sie einen Gruß an Ihre Tochter aus. Von Degi.« Karl Degenwald hebt, während des Gehens, die Hand und biegt um die Ecke. Sein Körper verschwindet vor Elsas Augen.
Anna?, fällt ihr mit einem Mal ein. Sie schließt abrupt die Tür, geht in die Küche und inspiziert ihr Handy, das auf der Arbeitsplatte liegt. Keine Nachricht. Oben, im ersten Stock, präsentiert sich das leere Zimmer ihrer Tochter. Elsa schluckt schwer. »Verdammt«, presst sie hervor. Sie hat ihre Tochter vergessen, weil sie dabei ist, sich in einen Fall zu verrennen.
Elsa hastet die Treppe hinunter, schnappt sich ihr Handy, wirft eine Jacke über und verlässt das Haus. Vor der Tür ruft sie Annas Nummer auf. Nach dem Freizeichen springt die Mailbox an. Auch das noch! Sie rennt die Straße hinunter und blickt sich suchend um. Dunkelheit, gespickt mit der Helligkeit gleichmäßig auftauchender Straßenlaternen. Wo, um Himmels willen, bist du, Anna?, schreit Elsa innerlich. Dann rennt sie los. So schnell, wie sie noch nie zuvor gelaufen ist.
Degenwald steht mit nacktem Oberkörper an der riesigen Fensterfront. In der Hand ein Glas Wasser. Seine Schulter lehnt an einer der vielen Scheiben. Draußen ist nichts zu sehen. Nur die leisen Geräusche der Natur sind zu hören. Die des Holzes, des Wassers, des Windes, der Tiere. Degenwald hört den Uhu, den sich jemand, einige Häuser weiter, für die Jagd zugelegt hat. Schon vor über zwei Jahren. Das dumpfe ›Huhu, Huhu, Huhu‹ vermittelt ihm das Gefühl, daheim zu sein. Der Hof seiner Eltern ist sein Zuhause. Er hat Geld und Mühe in die Sanierung des alten Gehöfts gesteckt. Jetzt ist die Fassade originalgetreu wiederhergestellt. Die alte Holztür war nicht mehr zu retten. Die hat er eins zu eins vom Tischler neu anfertigen lassen. Die untere Etage wird kaum gebraucht Degenwald bewohnt fast ausschließlich das Dachgeschoss. Hier befindet sich sein Wohnzimmer, mit Blick auf den Hochgern, den Hausberg Unterwössens, ein kleines Arbeitszimmer und ein luftiges Bad mit Blick in den Himmel. Unten schläft er nur. Die Küche wird so gut wie nie benutzt. Er wohnt gern auf dem Land. Er mag die Stille und Beschaulichkeit. Dass das Haus böse Erinnerungen aufzuwarten hat, ignoriert er geschickt. Er hat mühsam gelernt, Dinge herauszufiltern. Für ihn ist das ein ähnlicher Prozess wie Ausmisten. Was man nicht mehr braucht, kommt in den Müll. Genauso hat er es nach dem Tod seiner Eltern gehalten. Das Sterben der beiden hat er akzeptiert. Die Umstände ihres Ablebens ausgelagert. Aus seiner Erinnerung vertrieben. Altlasten interessieren ihn nicht. Er hat sich darauf trainiert, nach vorn zu schauen. Ausnahmslos. Zumindest im Privatleben.
Beruflich tut er das Gegenteil. Er wühlt in Vergangenem, trotzt Erlebtem eine neue Bedeutung ab. Den Schrecken eines Verbrechens.
Der Fall Silke Maihauser stürzt ihn erstmals seit Langem in Unbehagen. Sein mühsam zusammengezimmertes Gerüst droht einzustürzen. Mit dem Fund der Leiche hat, nach all den Jahren des emotionalen Dösens und Schweigens, niemand mehr gerechnet. Fred Maihauser nicht. Götz Bramlitz ebenso wenig. Und er? Er hat sich seit damals einen Panzer aus Unnahbarkeit zurechtgelegt und eine vergangene, tiefe Liebe weggesperrt. Eine Liebe, die seine jungen Jahre beseelt, ja geradezu beflügelt
Weitere Kostenlose Bücher