Engpass
dreht sie die Hitze zurück.
Degenwald wischt sich mit der Serviette über den Mund. Im Hintergrund leise Klänge. Elsa hat auf Musik zurückgegriffen. Musik öffnet jede emotionale Tür. Man muss nur wissen, welches Stück für welche Gelegenheit. Degenwald liebt Musik. Das hat sie schon aus ihm rausgekitzelt.
Er ist ein würdiger Gegner. Sie begreift blitzschnell, wo er bereitwillig Zugeständnisse macht und wo nicht. Er redet, scherzt, lacht, amüsiert. Er macht mit. Das Spiel ist eröffnet. Längst ist ihm klar geworden, dass die unsichtbare Wand, das Trennende zwischen ihnen, nur einen anderen Namen bekommen hat. Getarnte Freundlichkeit. Lockeres Geplauder, dann Anstoßen, einen Schluck Wein.
»Der Rotwein war eine hervorragende Wahl, Frau Wegener«, lobt er. Und dann lächelt er, wie Elsa es ihm nie zugetraut hätte. Er lächelt mit ihr um die Wette. Dabei strahlen seine Augen und in sein Kinn gräbt sich ein weiches Grübchen. Seine Zähne zeichnen seinen Mund harmonisch nach. »Bei einem Tropfen wie diesem kann man nur froh sein, wenn man zu Fuß nach Hause gehen kann.«
»Sie sagen es«, stimmt Elsa zu und trinkt ebenfalls. Bisher ist ihr nicht aufgefallen, wie gut Degenwald aussieht, wenn er entspannt ist. Der Wein steigt ihr zu Kopf. Sie verträgt nicht viel. Sei’s drum. Sie muss die Stimmung ausnutzen. Sie will wissen, wo Degenwalds Knackpunkt liegt. Wo lässt sich das leichter herausfinden als bei einem lockeren Essen?
»Wartet wirklich niemand auf Sie, wenn Sie später nach Hause kommen?« Elsa wählt bewusst dieses heikle Thema. Wenn sie derartige Fragen stellt, besteht kein Zweifel am privaten Charakter der Einladung.
»Wie schon gesagt, ich lebe allein. Allerdings …«, Degenwald schmunzelt vergnügt, »… wenn Sie übermorgen bei mir anläuten, wird Ihnen von meiner Haushaltshilfe geöffnet werden. Glauben Sie mir, das hat schon zu wilden Spekulationen im Ort geführt.«
Elsa lacht amüsiert auf. Für einen winzigen Moment legt sie ihre Hand auf Degenwalds Unterarm. Eine wohlüberlegte Geste. »So einer sind Sie also? Vergreifen sich am Personal?«
»Ich gestehe, wenn Lydia ihren berühmten Strudel zubereitet, vergreife ich mich an zwei, drei Stücken. Und manchmal bekommt sie auch einen Kuss von mir. Als Dankeschön. An der Harmlosigkeit der Geste mag jedoch kein Zweifel bestehen.«
»Das behaupten Sie«, kontert Elsa, hebt erneut ihr Glas und prostet Degenwald zu.
Anna sitzt bewegungslos im Dunkeln. Die Bank am Ufer des Flusses ist ihr Refugium. Nach Hause ist das Letzte, was sie will. Und sonst kennt sie hier niemanden. Keiner, zu dem sie gehen könnte. Sie ist allein. Eine Fremde, eine Aussätzige. Das Wasser der Ache rauscht gleichmäßig an ihr vorbei. Anna spürt, wie das Holz unter ihrem Hintern die aufkommende Kälte aufnimmt. Immer wieder ruft sie die Nummer ihrer Freundin in Köln an. Doch zum x-ten Mal antwortet nur die Mailbox. ›Hey, hier ist Beate. I’m on the road again. Call later. Bye!‹ Anna drückt Beates Stimme weg.
»Scheiße!«, entfährt es ihr. Dann atmet sie laut auf und versteckt den Kopf in beiden Händen. Das Licht der nächsten Laterne ist weit genug entfernt. Sie würde niemandem auffallen. Wenn sie hier einfach sitzen bliebe? Die ganze Nacht über. Den nächsten Tag? Anna spürt, wie der Drang, sich wehzutun, zunimmt. Sie will diesen verdammten Schmerz in ihrem Herzen loswerden. Ohne zu überlegen, steht sie plötzlich auf und macht zwei Schritte. Um zum Wasser zu kommen, muss sie eine steile Böschung überwinden. Na und?, treibt sie sich an. Sie setzt sich auf den Hosenboden und rutscht die Böschung hinunter. Mit lautem Spritzen landet sie in der Ache.
»Oh, Mist«, flucht Anna. Das Wasser fühlt sich kalt wie Eiswürfel an – und das im September. Die Feuchtigkeit kriecht durch ihre Jeans und nimmt sie in Empfang. Es kribbelt auf der Haut wie tausend Käfer. Jetzt muss Anna lachen. Unwirklich, viel zu laut. Sie platscht mit beiden Händen in den Fluss. Platsch, platsch, platsch. Dann lässt sie den Kopf sinken. Tiefer, immer tiefer, bis sie untertaucht. Ihr Schädel berührt die Steine auf dem Grund. Dort angekommen, öffnet sie Mund und Augen. Schwärze um sie herum. Der Fluss ergreift Besitz von ihr. Die Härte und Kälte des Wassers schmerzt derart, dass ihr Denken mit einem Mal ausgeschaltet ist. Zuerst kapiert Anna es gar nicht. Sie fühlt das Beißen und Zerren des Wassers. Deutlicher, als sie möchte, stärker, als sie
Weitere Kostenlose Bücher