Engpass
der Geist bleibt wach. In dem Stadium, in dem sie sich befindet, hält man die Funktionen des Körpers irgendwie aufrecht. Elsa hat mit zwei Tassen grünem Tee und einer Scheibe Brot mit Käse nachgeholfen. Danach konnte sie weitermachen. Gut sogar. Das Gehirn funktionierte tadellos. Sogar die Motivation stimmte.
Jetzt sitzt sie vor ihrem Rechner. Erneut mit dem Tod zweier Frauen beschäftigt. Die Angst, zusammenzubrechen – wenn sie erst alle Gedanken zulässt, wieso sie Anna völlig durchnässt und vorerst nicht ansprechbar aufgefunden hat – schiebt Elsa weit weg. Ihre Tochter kommt später dran. Dafür muss sie frisch sein. Frisch und ausgeruht. Täterprofile jedoch kann sie in fast jeder Situation entwickeln. Verloren gegangener Schlaf stört da nur minimal.
»Du hast also in München Jura studiert«, flüstert Elsa leise vor sich hin. Ihre Finger hasten über die Tastatur. Sie hat vor, alles über ihren Kollegen Karl Degenwald herauszufinden. Auch das Nebensächliche. Es dauert nicht lange, bis sie fündig wird.
Ehepaar tot in Unterwössen gefunden. Zwei Leichen in einer Scheune. Der eigenen. Selbstmord ausgeschlossen. Fremdeinwirkung bewiesen. Ein Fall, der nie aufgeklärt wurde. Trotz zermürbender Verhöre. Kein Motiv. Keine wirklich brauchbare Spur. Kein Täter. Karl Degenwalds Eltern, die, dicht an dicht, nebeneinanderhängen. Elsa weiß, dass es ein entsprechendes Foto gibt. Sie muss es sich lediglich besorgen. Fürs Erste durchforstet sie sämtliche Berichte, derer sie habhaft wird.
Spät, kurz vor sechs, fährt sie den Rechner hinunter. Jetzt kennt sie Degenwalds wunden Punkt. Der Mord an seinen Eltern. Hat er deshalb nie als Jurist gearbeitet, obwohl er das Studium durchgezogen und sogar eine Dissertation angehängt hat? Ist er deshalb – stattdessen – zur Kripo gegangen? Weil er dem Mörder der Eltern auf der Spur sein wollte? Mit Genehmigung sozusagen? Elsa weiß, dass die Psyche des Menschen viele Türen öffnet, um mit übermäßiger Belastung, lebensbedrohlichen Situationen und Ähnlichem fertig zu werden. Das Gefühl, in der Funktion eines Kriminalhauptkommissars, wenn nicht für die Eltern, so doch für andere da zu sein, kann vieles kompensieren. Auch nicht verarbeiteten Schmerz. Über den Tod geliebter Menschen beispielsweise.
»Grausames Unterwössen«, entkommt es Elsa. Ihre Stimme klingt unheilschwanger. Weshalb finden in dem kleinen, idyllischen Tal, das sie sich als neue Heimat zurechtgedacht hat, derart grausame Verbrechen statt? Die Degenwalds. Silke Maihauser. Aurelia Bramlitz. Alle tot. Was treibt die hiesigen Bewohner an, sich aneinander zu versündigen? Elsa spürt, wie sich der Haarflaum auf ihren Armen aufstellt. Verspätetes Grausen, denkt sie. Merkt, wie sie in ein feines Netz irritierender Empfindungen hineingezogen wird. Jetzt, da sie hier wohnt, hat sie Anteil an dem, was um sie herum passiert. Nicht nur als Kriminalpsychologin, auch als Mensch. Schuld lastet schwer auf Menschen. Auch wenn der Verdrängungsmechanismus anfangs greift. Ganz wird man sie nie los. Genauso, wie Kinder, die von Eltern geschlagen wurden, später oft selbst zu Gewalttaten neigen, genauso können Angehörige von Ermordeten in eine unheilvolle Spirale geraten. Gut möglich, dass Karl Degenwald den Tod seiner Eltern anfangs aufklären, alles besser machen wollte. Doch dann konnte es passiert sein, dass er in den Würgegriff des Verbrechens geraten war. Sühne, Reue, Rache. Schuld abtragen, richten, wo niemand sonst richtete. Spielte all das eine Rolle?
Ihren Nachbarn, dem Mann von der Tankstelle, der nie ohne Kippe zwischen den Lippen anzutreffen ist, dem Bäcker, der nie Brot isst wegen einer Unverträglichkeit, dem Brauereibesitzer, der nun keine Frau mehr hat, all den Wirten, die fürs Geschäft sorgen müssen, der Frau im Blumenladen, die eine kompetente Orchideenspezialistin ist, dem Apotheker, der viel lieber Schauspieler geworden wäre … Würde sie all diesen Menschen länger unbefangen begegnen können? Elsa ermahnt sich aufzuhören. Schluss mit all dem. Sie trinkt einen großen Schluck Wasser. Fährt sich müde über die Augen. Schließt sie für einen kurzen Moment.
Den Tod von Degenwalds Eltern kann sie nicht mehr aufklären. Stattdessen wird sie hinter die Fassade ihres Sohnes blicken. Herausfinden, was mit ihm passiert ist. Nach der Stunde Null. Es gibt immer die Zeit vor einem Mord und die Zeit danach. Den, der für das Leid von Silke Maihauser und Aurelia
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