Engpass
Mal das Gleiche. Im Grunde hat er es sogar verstanden. Sie hatte Stil. Niveau.
Wenn er Fred über den Weg gelaufen ist, hat er kein schlechtes Gewissen gehabt. Aurelia gegenüber war das anders gewesen. Ihr Blick ging tiefer. Sie hatte feine Antennen besessen. Aurelia war wie eine Kopie von Silke. Ebenfalls zierlich. Das gleiche weiche Lächeln.
Wenn du sie heiratest, kommst du von Silke los, hat er sich eingeredet. Ein plausibler Grund für eine schnelle Eheschließung. Natürlich war er verliebt gewesen. Trotzdem, mit Silke, das war etwas anderes. Wie ein Sog hatte es ihn zu ihr hingezogen. Keine Chance, sich daraus zu befreien. Ein Leben ohne sie? Unvorstellbar. Einen Ersatz hatte er sich erobern wollen. Anong. Aurelia. Doch die Abdrücke waren zu groß gewesen. Silkes Abdrücke auf seinem Körper und in seiner Seele.
Aurelia hatte es schnell begriffen. Er trinkt das Bier aus, schiebt die Flasche angewidert von sich weg. »Tot! Aurelia ist tot!«, wiederholt er. Plötzlich schlägt seine Faust hart auf der Schreibtischplatte auf. Die Vergangenheit ist lebendiger als je zuvor. Sie ist gerade dabei, sich in seine Gegenwart zu fressen.
Viertel vor eins. Elsa zittert am ganzen Leib. Noch einmal hat sie den Ort abgesucht. Sogar den Wössener See im Laufschritt umrundet. Schwierig bei der Finsternis. Jegliche Gewässer, vor allem Seen, sind ein Anziehungspunkt für Jugendliche. Jeder noch so aberwitzigen Möglichkeit nachzuspüren, das ist sie Anna, aber auch sich selbst schuldig. Doch alles Rennen und Bangen war umsonst. Sie muss sich ihre Niederlage eingestehen, muss Anna als vermisst melden. Eine Fahndung rausgeben. Unterstützung anfordern. Auch wenn sie selbst nur zu gut weiß, dass dann erst mal gar nichts geschehen wird. Außer warten. Ein ganzes Team, das sich darum kümmert, ein 15-jähriges Mädchen mit dunklen Haaren aufzuspüren, das wünscht sich Elsa insgeheim. Irgendwo in Oberbayern treibt sich ihre Tochter herum. Allein, verloren.
Dann ein Geistesblitz. Hartmut! Köln! Was, wenn Anna auf und davon ist? Nach Köln, zu ihrem Vater. Ohne ihr etwas davon zu sagen. Der zu erwartende Denkzettel für eine Mutter, die partout aufs Land ziehen wollte, ohne der Tochter ein realistisches Mitspracherecht einzuräumen. Elsas unnatürlich hochgezogene Schultern sacken in sich zusammen. Sie zückt, wie schon viele Male zuvor, ihr Handy, will Hartmut anrufen. Soll er seinen Triumph genießen. Den Triumph des Siegers. Er hat ihr den Zusammenbruch des Systems vorausgesagt. Jetzt ist seine Prognose eingetroffen. Schneller als erwartet.
Plötzlich entdeckt sie etwas Schemenhaftes. Nicht weit von ihr entfernt. Zuerst ist es nur ein schwarzer, länglicher Fleck am Boden. Am Ufer der Ache. Beim Näherkommen wächst sich der Fleck zu einem Menschen aus. Als die Umrisse des Körpers auszumachen sind, ist sie sich sicher. Dort hinten, wenige Meter entfernt, liegt ihre Tochter.
9. Kapitel
Elsa hat Anna eine Wärmflasche ins Bett gelegt, nachdem sie aus der Wanne gestiegen ist. Dann hat sie die Nachttischlampe neben ihrem Bett gelöscht und das Zimmer verlassen. Jetzt steht sie an der Schwelle zur Treppe. Horcht. Kein Laut. Als sie auf Socken die Holzstufen hinunter will, setzt das Wimmern ein. Elsas Fuß verweigert den Dienst. Sie bleibt stehen. Wie angewurzelt. Horcht erneut und hört, wie dieser zarte Körper, dieses unterkühlte Menschenkind die Fassung verliert. Das leise Wimmern steigert sich in ein gleichmäßiges Weinen. Am liebsten möchte sie Anna fest an sich drücken. So fest, wie sie nur kann. Trost spenden. Kraft. Schutz. Aber sie darf nicht. Das wird jemand anderes übernehmen, weiß Elsa. Vermutlich Beate. Kein Wort hat ihre Tochter mit ihr gesprochen. Alles, was zählt, ist, dass es sie überhaupt noch gibt. Dass sie lebt.
Den Rest wird sie schon irgendwie hinkriegen. Bemühen. Geduld. Einfühlungsvermögen. Ihre Begleiter für die Zukunft. Sie hat sich vorgenommen, um ihre Tochter zu kämpfen. Mit allen Mitteln.
Um vier in der Früh ist Elsa noch immer wach. Nach allem, was sie durchgemacht hat, ist Schlaf das Letzte, woran sie denkt. Der vergangene Tag und die darauffolgende Nacht haben sie gezwungen, alle Emotionen durchzuspielen. Auch die, die sie nie am eigenen Leib erleben wollte. Ist derartig Aufwühlendes geschehen, blenden sich Schlaf und Entspannung aus. Elsa ist gut genug ausgebildet, um derartige Zusammenhänge bis ins Kleinste zu beherrschen. Auch wenn der Körper Ruhe signalisiert,
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