Engpass
hat. Eine Zeit lang zumindest. Bis das Gift der Eifersucht daran nagte. Doch all das, alle Erlebnisse, Erinnerungen, nicht aufgearbeiteten Gefühle waren nicht mehr existent. Alles ging gut. Bis Elsa Wegener in Bayern aufkreuzte.
Elsa keucht laut. Sie ist so lange gerannt, dass sie eine Pause einlegen muss. Ihr unregelmäßiger Atem dröhnt ihr in den Ohren. Sie hat die Hände gegen die Oberschenkel gestemmt. Ausrasten, einen Moment nur. Dann muss sie weiter.
Laut nach Anna zu rufen, hat Elsa vor einigen Minuten aufgegeben. Sie hat die Leute aus den Wohnzimmern und Betten geschreckt. Erbost hatten sich Fenster und Türen geöffnet und Menschen sie zur Ruhe ermahnt. Sogar beschimpft hat man sie. Ob sie getrunken habe? Randalierer dulde man hier nicht. Einer wollte sogar die Polizei verständigen. Man wolle den wohlverdienten Schlaf genießen. Falls sie jemanden vermisse, dafür sei die Polizei zuständig. Zuerst hat Elsa all das ignoriert. Hat weiter nach Anna gerufen. So laut sie konnte. Wieder und wieder. Was kümmerte es sie, ob man sie für verrückt hielt? Doch dann hat sie stumm weitergesucht. Sie darf keine Zeit durch unsinnige Diskussionen mit den Bewohnern des Dorfes verlieren. Ihr Kind, ihre Tochter, ist verschwunden. Mechanisch wischt Elsa die kalten Tränen von der Wange. Alles scheint sich gegen sie zu stellen. Was, um Himmels willen, ist mit Anna geschehen? Das ist der Gedanke, der sie beherrscht. Wo hält sie sich in diesem Moment auf, dem Augenblick, der ihrer Mutter körperlich das Letzte abverlangt? Elsa rappelt sich auf. Fährt sich über die Augen. Sie muss weiter. Ob sie kann oder nicht. Einen kurzen Moment lang überlegt sie, Karl Degenwald um Hilfe zu bitten. Er kennt sich aus, weiß, wo sie suchen könnten. Schneller, als der Gedanke gekommen ist, verwirft sie ihn wieder. Einen mutmaßlichen Mörder bittet man nicht um Hilfe.
Anna spürt nichts. Absolut nichts. Sie ist leichter als ein Vogel. Träumt sie? Ist sie ohnmächtig? Tot? Das Denken hat aufgehört. Ein für alle Mal. Egal, was es auch sein mag, dort, wo sie jetzt ist, will sie bleiben. Den Zustand, den sie erreicht hat, will sie beibehalten.
Elsa ruft sicher zum 20. Mal bei ihrer Tochter an. Ergebnislos. Anna geht nicht ans Handy.
Gleich hat sie den kleinen Ort durch. Jede Straße, jede Gasse, jeden Spielplatz, jedes Bushäuschen, jeden Hinterhof, jeden Stall, jeden Winkel hat sie abgeklappert. Wie groß mag die Chance sein, Anna heute noch wiederzusehen? In Elsas Kopf wirbeln die Gedanken hin und her. Vielleicht hält Anna sich gar nicht in der Gegend rund um Unterwössen auf? Vielleicht ist sie in Marquartstein, Grassau, Oberwössen, Reit im Winkl oder sogar am Chiemsee unterwegs? Bei Anna muss sie mit allem rechnen. Es ist schließlich nichts Neues, dass sie gern eigene Wege geht. Auch ungewöhnliche. Eine Möglichkeit, an die Elsa glauben will, ist die, dass Anna mit jemandem aus der Schule mitgegangen ist. Einer neuen Freundin oder einem neuen Freund. In der Sicherheit einer fremden Wohnung haben die Mädchen vielleicht nur die Zeit übersehen. Genauso wie sie. Gerade, wenn man einander kennenlernen will, über alles Mögliche quatscht, geht leicht jedes Zeitgefühl verloren. Natürlich, das war es! Dass sie nicht früher darauf gekommen war. Elsa blickt auf ihr Handgelenk. Kurz vor zwölf. Selbst für Anna ist es ein starkes Stück, um die Zeit noch nicht zu Hause zu sein.
In der Brauerei sind längst alle Lichter erloschen. Nur Götz Bramlitz sitzt im Büro. Immer noch. In seinem Arbeitszimmer brennt die kleine Leuchte auf dem Schreibtisch. Nach Hause gehen, das mag er nicht. Nicht nach allem, was geschehen ist.
Er arbeitet nicht. Er denkt nicht. Kein Interesse. Er sitzt und trinkt. Weißbier. Gleich aus der Flasche. Sitzen. Trinken. In sich hineinhorchen. Sonst nichts.
In diesem Zimmer hat er Silke Maihauser unendlich viele Male genommen. Meist von hinten. Das mochte er. Das Gefühl, hinter dieser schmalen Gestalt zu lauern. Wie auf der Pirsch. Kurz vorm Angriff. Sich an sie zu schmiegen. Mit einer Hand zuzupacken. Den Ton anzugeben. Auch sexuell. Gesprochen haben sie nur selten. Oft sogar kein Wort gewechselt. Nur eine Flasche Champagner miteinander getrunken.
Geschenke hat Silke ungern angenommen. ›Ich will dich verwöhnen‹, hatte er gesagt. Eine Frau wie sie verwöhnte man gern. So zierlich, so gertenschlank, so willig, so süß.
›Geschenke gehen nicht. Ich muss an Fred denken.‹ Jedes
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