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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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bemerkte: »Ja, aber früher war er sehr gut, oder etwa nicht?«
    Jericho blieb nicht stehen, um den Rest zu hören. Er stieß die Tür auf und rannte fast den Korridor entlang, so daß er, als die anderen Kryptoanalytiker im großen Saal ankamen, bereits an seinem Schreibtisch saß, mit geschlossenen Augen und an die Schläfen gedrückten Knöcheln über die Funksprüche gebeugt.
    So verharrte er drei Stunden lang.
    Gegen sechs erschien Puck, legte weitere vierzig chiffrierte Meldungen, die jüngste Ausbeute an Shark-Funksprüchen, auf seinen Tisch und fragte, nicht ohne ein gewisses Maß an Sarkasmus, ob Jericho »schon durchgestiegen« wäre. Um sieben Uhr hörte man Trittleitern gegen die Außenwand klappern, und die Verdunkelungsläden wurden geöffnet. Ein bleiches, graues Licht drang in die Baracke.
    Wieso war sie um diese Nachtstunde durch den Park geeilt? Das war es, was er nicht verstand. Natürlich, schon die Tatsache, daß er sie wiedergesehen hatte, nachdem er einen Monat lang versucht hatte, sie zu vergessen, war verstörend.
    Aber jetzt, in der Rückschau, waren es vor allem die Umstände, die ihn beunruhigten. Sie war nicht in der Kantine gewesen, dessen war er sicher. Er hatte jeden Tisch, jedes Gesicht gemustert - war so abgelenkt gewesen, daß er nicht einmal hingeschaut hatte, was er zu essen bekam. Wo war sie gewesen? Hatte sie sich mit jemandem getroffen? Mit wem? Mit wem? Und die Art, wie sie dahingehastet war.
    Lag darin nicht etwas undefinierbar Verstohlenes, sogar Panikartiges?
    Sein Gedächtnis spulte die Szene Bild für Bild wieder ab: die Schritte, das aufblitzende Licht, die Wendung ihres Kopfes, ihr Ausruf, das Schimmern ihres Haars, die Art, wie sie verschwunden war… Auch das war merkwürdig. Konnte sie wirklich die ganze Strecke bis zu ihrer Baracke in der Zeit zurückgelegt haben, die er gebraucht hatte, um seinen Ausweis zu finden?
    Kurz vor acht raffte er die Kryptogramme zusammen und schob sie in den Aktendeckel. Rings um ihn bereiteten sich die Kryptoanalytiker auf das Ende ihrer Schicht vor, streckten sich, gähnten, rieben sich die müden Augen, packten ihre Arbeit zusammen, informierten ihre Ablösung. Niemand merkte, daß Jericho den Korridor entlang zu Logies Büro eilte. Er klopfte einmal an. Niemand meldete sich. Er drückte die Türklinke. Wie er sich erinnerte: unverschlossen.
    Er machte die Tür hinter sich zu und griff nach dem Telefon. Wenn er auch nur eine Sekunde zögerte, würde ihn sein Mut verlassen. Er wählte »Null«, und nach dem siebten Läuten, als er gerade aufgeben wollte, meldete sich eine schläfrige Vermittlerstimme.
    Sein Mund war fast zu trocken, um die Worte hervorzubringen. »Den diensthabenden Offizier von Baracke 3 bitte.«
    Fast unmittelbar darauf sagte eine Männerstimme gereizt: »Oberst Coker.«
    Jericho ließ fast den Hörer fallen.
    »Arbeitet bei Ihnen eine Miss Romilly?« Er brauchte seine Stimme nicht zu verstellen; sie zitterte ohnehin so stark, daß sie nicht zu erkennen war. »Eine Miss Claire Romilly?«
    »Da hat man Sie mit einer völlig falschen Abteilung verbunden. Wer sind Sie?«
    »Aus der Versorgungsabteilung.«
    »Verdammter Mist.« Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, als hätte der Oberst das Telefon quer durch den Raum geworfen, aber die Verbindung blieb bestehen. Jericho konnte das Klappern eines Fernschreibers hören und eine sehr kultivierte Männerstimme irgendwo im Hintergrund, die sagte: »Ja, ja, das habe ich… Gut, in Ordnung. Bis später.« Der Mann beendete sein Gespräch und begann ein neues. »Hier Heeres-Register…« Jericho schaute auf die Uhr über dem Fenster. Es war bereits nach acht. Na los, komm schon, komm schon… Plötzlich gab es wieder ein lautes Geräusch, jetzt viel näher, und eine Frau sagte leise in Jerichos Ohr: »Ja?«
    Er versuchte, beiläufig zu klingen, aber es kam ein Krächzen heraus. »Claire?«
    »Tut mir leid, aber Claire hat heute frei. Sie kommt erst morgen früh um acht wieder zum Dienst. Kann ich Ihnen helfen?«
    Jericho legte sanft den Hörer auf die Gabel, genau in dem Moment, in dem hinter ihm die Tür geöffnet wurde.
    »Ach, hier sind Sie, alter Junge…«

4.
    Tageslicht tat den Baracken nicht gut.
    Die Verdunkelung hatte sie mit einem gewissen Geheimnis umgeben, aber der Morgen ließ sie als das erkennen, was sie waren: gedrungen und häßlich, mit braunen Wänden und geteerten Dächern und einer Aura des Verfalls. Über dem Herrenhaus war der Himmel glänzend weiß mit

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