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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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aus dem Kleiderschrank. Das Fenster klemmte, aber ein paar kräftige Schläge mit dem Handrücken bewirkten, daß es sich fünfzehn Zentimeter weit hochschieben ließ. Er kniete sich hin und legte das Teleskop auf die Brüstung. Anfangs gelang es ihm nicht, in dem unübersichtlichen Wirrwarr der Gleise etwas ausfindig zu machen, aber dann hatte er es plötzlich scharf im Bild. Es war ein großer Schäferhund, so groß wie ein Kalb, der unter den Rädern eines Güterwaggons herumschnüffelte. Er verschob das Teleskop ein wenig nach links, und da sah er einen Polizisten in einem Mantel, der ihm bis über die Knie reichte. Zwei Polizisten sogar, und ein zweiter Hund an der Leine.
    Er sah mehrere Minuten zu, wie die kleine Gruppe den leeren Zug durchsuchte. Dann trennten sich die beiden Teams, das eine ging an den Gleisen entlang, und das andere verschwand außer Sichtweite in Richtung auf die kleinen Eisenbahnerhäuschen an der anderen Seite. Er schob das Teleskop zusammen.
    Vier Polizisten und zwei Hunde für die Gleise. Sagen wir, zwei weitere Teams auf den Bahnsteigen. Wie viele in der Stadt? Zwanzig? Und in der Umgebung?
    »Haben Sie ein Foto von ihr? Aus neuerer Zeit?«
    Er tippte mit dem Teleskop gegen seine Wange.
    Sie mußten jeden Hafen und jeden Bahnhof im Lande überwachen.
    Was würden sie tun, wenn sie sie erwischten? Sie hängen?
    Immer mit der Ruhe, Jericho. Er hörte die Stimme seines Lehrers an seinem Ellenbogen. Nimm dich zusammen, Junge.
    Steh es irgendwie durch.
    Wasch dich. Rasier dich. Zieh dich an. Mach ein kleines Bündel aus der schmutzigen Wäsche und leg sie für Mrs. Armstrong aufs Bett, mehr aus Hoffnung als erwartungsvoll. Geh nach unten. Ertrag die Versuche, eine höfliche Konversation zu machen. Hör dir eine von Bonnymans endlosen schlüpfrigen Geschichten an. Laß dir zwei der anderen Gäste vorstellen: Miss Quince, recht hübsch, eine der Teleprinzessinnen in der Marinebaracke, und Noakes, einst Fachmann für mittelhochdeutsche Hofepen, jetzt Kryptoanalytiker in der Wetterabteilung, flüchtig bekannt seit 1940, ein verdrießlicher Kerl, damals und jetzt. Vermeide alle weiteren Gespräche. Kaue den Toast, der wie Pappe schmeckt. Trinke Tee, so grau und wäßrig wie ein Februarhimmel. Hör dir mit halbem Ohr die Nachrichten im Radio an: »Radio Moskau berichtet, daß die Dritte Armee unter General Valutin die Stadt Charkow mit allen Mitteln gegen die neuerliche deutsche Offensive verteidigt…«
    Zehn vor acht erschien Mrs. Armstrong mit der Morgenpost. Nichts für Mister Bonnyman (»dafür sei Gott gedankt«, sagte Bonnyman), zwei Briefe für Miss Jobey, eine Postkarte für Miss Quince, eine Rechnung von der Buchhandlung Heffers für Mister Noakes und überhaupt nichts für Mister Jericho - oh, nur das hier, den hatte sie gefunden, als sie herunterkam, der mußte irgendwann im Laufe der Nacht unter der Tür durchgeschoben worden sein.
    Er betrachtete ihn genau. Der Umschlag war von schlechter Qualität, von der Sorte für den Dienstgebrauch. Sein Name war mit blauer Tinte geschrieben, und darunter stand, zweimal unterstrichen »Streng privat«.
    Er nahm ihn mit in die Diele, um ihn zu öffnen, mit Mrs.
    Armstrong dicht auf den Fersen.
    Lieber Mr. Jericho, Baracke 6, 4.45 Uhr da Sie bei unserer gestrigen Begegnung ein so großes Interesse an mittelalterlichen Alabasterfiguren bekundeten, wollte ich Sie fragen, ob Sie Lust hätten, mich heute morgen um 8 Uhr am gleichen Ort zu treffen, damit wir uns das Grabmal von Lord Grey de Wilton (15. Jahrhundert und wirklich sehr schön) ansehen können?
    Hochachtungsvoll H. A. W.
    »Schlechte Nachrichten, Mister Jericho?« Es gelang ihr nicht ganz, den Anflug von Hoffnung in ihrer Stimme zu unterdrükken.
    Aber Jericho schlüpfte schon in seinen Mantel und eilte zur Tür hinaus.
    Obwohl er den Hang so schnell wie möglich hinaufeilte, war er doch fünf Minuten zu spät daran, als er an dem granitenen Kriegerdenkmal ankam. Auf dem Friedhof war weder sie noch sonst jemand zu sehen, also versuchte er es mit der Kirchentür. Zuerst dachte er, sie wäre abgeschlossen. Er brauchte beide Hände, um den rostigen Eisenring zu drehen. Er stemmte die Schultern gegen das verwitterte Eichentor, und es schwang einwärts.
    Das Kircheninnere glich einer Höhle, kalt und dunkel. Strahlen aus staubigem schiefergrauem Licht durchbrachen die Dunkelheit, als wären sie wie Pfosten gegen die Fenster gelehnt. Er war seit Jahren nicht mehr in einer Kirche gewesen, und der

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