Entbrannt
knallte die Tür zu und fing an, ziellos umherzugehen.
Anders als ich strahlte Lincoln Gelassenheit aus, auch wenn er ebenso wie ich in den letzten vierundzwanzig Stunden kein Auge zugetan hatte. Er stand an der Motorhaube des Autos und atmete tief durch. Langsam und gezielt sah er sich um und deutete schließlich auf eine Lichtung am Flussufer.
»D a«, sagte er.
»W as?«, fuhr ich ihn an. Ich war am Ende meiner Geduld angelangt.
Lincoln sah mich gelassen an, während ich schäumte, und geduldig nickte er noch einmal in die Richtung, in die er eben gezeigt hatte. Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel, als er registrierte, dass ich meine Hände in die Hüften gestemmt hatte.
»D u hast doch wohl nicht geglaubt, dass es leicht zu finden wäre, oder? Ich habe mir angeschaut, was die Akademie in Bezug auf Evelyn und Jonathan dokumentiert hat. Jonathan war einer der mächtigsten Blendungsexperten aller Zeiten. Es ist wirklich erstaunlich«, sagte er bewundernd, als er wieder zurück auf die Lichtung blickte. »E s ist, als hätte er ein Stück von sich selbst dagelassen. Sogar jetzt, so viele Jahre nach seinem Tod, hält seine Blendung noch.«
Erschöpfung übermannte mich und ich stöhnte, weil ich nicht sehen konnte, was Lincoln sah. Alles schien im Moment unmöglich, und das hier kam mir wie eine weitere Prüfung vor… Das war nicht fair.
»V i.«
Honig und Sahne.
Lincolns Stimme war ruhig, besänftigend und machtvoll zugleich. »K onzentrier dich.«
Ich schüttelte den Kopf und stieß einen frustrierten Seufzer aus. »V erdammt. Ich brauche einen Kaffee.« Merris Tee hatte nichts gebracht.
Lincoln kicherte, und das warme Geräusch schlich sich bei mir ein.
Dummes, verwirrendes Lachen.
Ich wollte nicht beruhigt werden. Ich wollte panisch sein. Aber ich war hilflos gegenüber der Art und Weise, wie mein Herz für ihn schlug, während meine Seele unter dem physischen Schmerz ihrer unerfüllten Bedürfnisse schrie.
Ich holte tief Luft. Lincoln wartete ruhig, während ich hektisch meine Hände ausschüttelte, meine Konzentration wiedererlangte und auf die Lichtung am Wasser richtete, die er mir gezeigt hatte.
Es dauerte länger als sonst, die Blendung zu entfernen, und ich kam mir vor, als würde ich Karamell von einer Wand kratzen. Aber als ich sie erst mal zu fassen bekam, schälte ich sie von unten nach oben ab und enthüllte schließlich eine kleine, weiße Holzhütte mit schweren Fensterläden und einer Veranda, die sich um das ganze Gebäude herum zog.
»O h«, sagte ich gebannt. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass Evelyn an so einem Ort wohnen könnte. Es war schön. Friedlich. Ruhig.
»L ilith war wohl nicht die Einzige, die an dieser Gegend Gefallen gefunden hat«, sagte Lincoln, der eher mich beobachtete als die Hütte.
»H mm«, erwiderte ich abwesend. Ich hatte mich, angezogen von der Eingangstür, bereits auf den Weg gemacht.
Die Veranda und die Fassade des Hauses waren in bemerkenswert gutem Zustand, wenn man bedachte, dass es leer stand. Ich sah mich um und versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, was ich da sah.
»W ie?«, fragte ich.
Lincoln war ebenfalls völlig hingerissen, er fuhr mit der Hand über das Holzgeländer und die angestrichenen Flächen, die nicht annähernd so stark abblätterten, wie der Zahn der Zeit es für gewöhnlich mit sich brachte. Er scharrte mit dem Fuß über die Dielen, die von einer dicken Staubschicht bedeckt, aber ansonsten unversehrt waren.
»U nglaublich«, sagte er. »J onathan muss einen Weg gefunden haben, seine Blendung so zu manipulieren, dass das Haus vor den Elementen geschützt wird. Es ist, als wäre es… Als wäre das, was unter der Blendung verborgen ist, irgendwie für immer geschützt.«
Ich zog den großen Metallschlüssel heraus, den Merri uns gegeben hatte. Er war so filigran, dass er etwas Märchenhaftes an sich hatte. Ich steckte ihn ins Schloss. Das alles fühlte sich so surreal an.
Wir öffneten die Tür und Lincoln trat in Verteidigungshaltung ein. Ich folgte ihm. Wir wussten, dass wir unsere Sicherheit nicht als selbstverständlich betrachten durften. Evelyn hatte keine versteckten Sprengsätze erwähnt, aber das bedeutete nicht, dass wir unvorbereitet sein sollten. Eine dicke Schicht aus feinem Staub bedeckte den Boden und die Möbel, die mit alten Laken zugedeckt waren. Sie hatte wohl gewusst, dass sie lange Zeit nicht wiederkommen würde.
Als wir durch das Wohnzimmer und die Küche gegangen waren und sie für sauber
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