Entbrannt
einem weißen Hemd vollständig angezogen. Sie grinste, als sie meine Überraschung sah, und setzte sich vor eine Tasse Tee.
»W enn die Leute hier wüssten, dass ich um diese Uhrzeit schon munter bin, würden sie erwarten, dass ich den Laden aufmache. Setzt euch. Ich habe Tee, und ich kann riechen, dass ihr schon Brot habt.«
Wir setzten uns, nahmen ihr Teeangebot an und reichten ihr unseren Brotlaib. Merri stellte Butter und Marmelade auf den Tisch und reichte jedem von uns ein Messer. Wir langten ordentlich zu.
»D u bist also Evelyns Tochter?«
Ich nickte.
Sie lächelte, als würde ihr dieser Gedanke gefallen.
»I hr wollt bestimmt zu ihrem Haus, oder?«
Ich nickte wieder. »S ie sagte, dass wir hierher kommen sollen, weil Sie uns den Rest des Weges beschreiben können.«
»W arum hat sie euch den Weg nicht selbst beschrieben?«
Ich zuckte mit den Schultern. »D ie Situation ist kompliziert. Sie musste vorsichtig sein mit dem, was sie sagte. Sie wusste, dass Sie uns weiterhelfen würden, wenn wir es bis hierher schafften«, sagte ich, wobei ich hoffte, dass das auch der Fall wäre.
»H m, die Situation ist immer kompliziert mit dieser Frau. Habt ihr ein Auto?«
»J a«, erwiderte Lincoln. »E inen Geländewagen.«
Merri nickte. »G ut.«
»S ie haben nicht zufällig eine Karte, auf der ihr Haus verzeichnet ist?«, fragte Lincoln.
»H a!«, rief sie. Fast wäre ihr das Brot aus dem Mund gefallen. »D iese Frau hat nie jemandem eine Wegbeschreibung gegeben. Aber ich glaube, ich habe mehr herausgefunden als sonst jemand. Wenn sie euch zu mir geschickt hat, muss es wohl so sein. Das ist jetzt über sechzig Jahre her. Ich war noch ein Mädchen und meine Neugier hat mich oft in Schwierigkeiten gebracht. Ich bin ihr und diesem Kerl gefolgt. Die beiden waren wie Bruder und Schwester und stritten sich auch so. Sie wanderten durch die Wälder, als ich sie entdeckte. Hielt mich für besonders clever, als ich sie so verfolgte. Die Leute hier haben immer hinter ihrem Rücken geredet und sich gefragt, wo sie wohnten. Ich machte mir nichts aus Klatsch und Tratsch, aber ich wollte Antworten auf meine Vermutungen. Ich folgte ihnen über einen langen Feldweg. Er führte zum Fluss und hörte dort einfach auf. Völlig sinnlos. Trotzdem habe ich sie dort aus den Augen verloren.«
»S ie wissen also nicht, wo es ist?«, fragte Lincoln. Sein stets so höflicher Tonfall geriet ins Wanken.
Sie sah ihn missbilligend an. »I ch bin nicht dumm, Junge. Dieser Weg führte irgendwohin, und kurz bevor sie verschwanden, sah Evelyn genau zu der Stelle, wo ich mich hinter einem Baum versteckt hielt. Die Jahre vergingen und ich ging nie mehr dorthin zurück, um nach ihnen zu suchen, und ich habe niemandem von diesem Tag erzählt. Bis heute.«
»W arum?«, fragte ich.
Merri stopfte sich ein großes Stück Sauerteigbrot in den Mund und kaute, während sie weitersprach. »M anchmal weiß man einfach, dass man etwas besser auf sich beruhen lassen sollte. Diese beiden verbrachten hier nicht ihre Flitterwochen, und ich wusste, dass Leute wie ich nicht das Recht hatten, die Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken.« Sie zuckte mit den Schultern und schluckte. »I ch habe sie dann hin und wieder in der Gegend gesehen.« Sie zog eine Augenbraue nach oben. »I ch wurde älter, aber die beiden schienen sich kaum zu verändern. Den anderen Leuten hier zeigten sie sich nicht, aber aus irgendwelchen Gründen kam sie immer vorbei, wenn sie hier durchkamen, um Vorräte einzukaufen. Als ich von meinem Pa den Laden übernahm, ging sie dazu über, mich gelegentlich zu besuchen, immer spät am Abend oder am frühen Morgen.«
Etwas Sehnsüchtiges lag in ihrem Blick. War sie deshalb schon so früh aufgestanden und hatte sich angezogen? Wartete sie immer noch darauf, dass Evelyn zurückkam?
»S ie wurden Freundinnen«, sagte ich.
»S ofern diese Frau sich je mit jemandem anfreunden konnte, ja. Stur wie die Hölle war sie, und sie sah immer aus, als würde das Gewicht der Welt auf ihren Schultern lasten.« Sie brummte missbilligend. »S ie sah aus wie ihr beide jetzt.«
Lincoln und ich zuckten beide zusammen. Merri lächelte, aber ihr Lächeln verblasste, als sie wieder zu ihrer Geschichte zurückkehrte.
»D as letzte Mal, als ich sie gesehen habe, war sie allein und in einem schlimmen Zustand. Sie war niemals ohne diesen Kerl unterwegs, deshalb wusste ich, dass etwas Schreckliches geschehen war.«
Das musste nach Jonathans Tod gewesen sein.
Merri
Weitere Kostenlose Bücher