Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
der Altvorderen auf sich zu ziehen durch unliebsame Äußerungen – das kommt fast gar nicht vor. Streiks? In Tariffragen dürfen sie aufmüpfig sein, denn den Chefärzten ist es wurscht, wenn gegen die Träger der Klinik gestreikt wird. Sie sind mittlerweile nicht mehr für Tarife verantwortlich. Aber Kritik inhaltlicher Art? An der Ausbildung, am Kammersystem? Würde sich keiner trauen, laut vorzubringen, der nicht komplett geschnitten werden möchte. Ich habe es selbst erlebt.
Die Ärztefunktionäre verweisen gern auf ökonomische Zwänge, auf den Druck wegen der Fallpauschalen. Es ist typisch für sie, von der eigenen Mitverantwortung abzulenken. Ich bezichtige die Ärzteschaft, zu opportunistisch und angepasst zu sein. Dieser Kadavergehorsam muss doch irgendwann verschwinden, diese Selbstverleugnung brauchen wir nicht, um gute Ärzte zu sein.
Gefährliche Pflege
Personalnotstand und Sterblichkeit bedingen sich
Seit Krankenhäuser wie Autofabriken kalkulieren, versuchen sie, ihre »Fixkosten« zu senken und mit möglichst wenig Personal die Produktivität zu steigern. Das geschieht gerade besonders in der Krankenhauspflege.
Deutschland ist Weltmeister im Operieren – und Weltmeister beim Einsparen von Pflegekräften. Wie passt das zusammen? 27000 Stellen sind seit Einführung der Fallpauschalen gestrichen worden. Und das, obwohl die Patientenzahlen ständig steigen und die Liegezeiten kürzer sind als früher. Heißt es in Deutschland jetzt: Operation gelungen – Patient tot? Wie kann es sein, dass sich Deutschland ein sinnloses Übermaß an Operationen leistet, und gleichzeitig zu wenig Geld da ist, Patienten vernünftig zu pflegen?
Erschrocken über dieses Missverhältnis, hat sich Claudia G. im Juli 2012 an die Öffentlichkeit gewandt und an die Patientenbeauftragte im Bundesgesundheitsministerium geschrieben. Ihre Geschichte ist schnell erzählt: Ihr Vater stürzte zu Hause. Er war 90 Jahre alt, aber noch rüstig. Ein Oberschenkelhalsbruch. Danach eine Operation. Mit einem künstlichen Hüftgelenk sollte er schnell wieder auf die Beine kommen. Alles lief nach Plan. Nach der Operation blieb er kurz auf der Intensivstation, wurde dann auf die chirurgische Normalstation verlegt. Er war unruhig, auch nachts. Die Nachtschwester war alleine mit 35 Patienten. Sie hatte kaum Zeit, nach ihm zu schauen, musste sich noch um andere, ebenfalls frisch operierte Patienten kümmern. Der Vater fiel in der Nacht aus dem Bett. Wahrscheinlich wollte er auf die Toilette. Die Nachtschwester fand ihn auf dem Boden, kurz vor sechs Uhr morgens, bei ihrem Kontrollgang. Der Vater kam wieder auf die Intensivstation, dort verstarb er.
Geschockt von dem Vorfall beginnt die Tochter nachzufragen. Was sie erfährt, beruhigt sie nicht. Es sei durchaus üblich, dass eine Pflegekraft in der Nacht für eine Station mit 35 Patienten zuständig sei und dass sich sogar acht bis zehn frisch operierte Menschen darunter befinden. Aber Claudia G. findet das nicht normal. Dass ein solches Missverhältnis nicht gut gehen kann, sagt ihr der gesunde Menschenverstand. Der Krankenschwester, die ihren Vater erst beim morgendlichen Kontrollgang fand, macht sie keine Vorwürfe, aber der Institution Krankenhaus und dem Gesundheitswesen schon. Warum, fragt sie, lassen unsere Politiker das zu? Warum gibt es keine gesetzlichen Vorschriften, keinen Personalschlüssel, an den sich Kliniken halten müssen?
Pflege als Kostenfaktor, der zu minimieren ist
Nicht nur in der Nacht, generell gibt es an deutschen Krankenhäusern den Trend, dass die pflegerische Arbeit im Zeitalter der Fallpauschalen als Kostenfaktor angesehen wird, den es so weit wie möglich zu minimieren gilt. Anhand einer großen internationalen Untersuchung, der bekannten »RN4Cast-Studie«, lässt sich nachzeichnen, wie sehr sich die Situation in der Pflege in den letzten Jahren verschlechtert hat. In dieser Studie wird in regelmäßigen Abständen Zahl und Ausbildung der Pflegekräfte in zwölf europäischen Ländern abgefragt, und dieser Vergleich macht die Misere an deutschen Krankenhäusern richtig deutlich: 2001 war in Deutschland eine Pflegekraft für zehn Patienten verantwortlich, und auch das war schon ein schlechter Standard. Heute muss hierzulande eine Krankenschwester dreizehn Patienten versorgen. Das sind Durchschnittswerte, gewiss. Aber mit dieser Pflegeausstattung ist Deutschland Schlusslicht in Europa, zusammen mit Spanien. Schlechter geht es kaum. Um die Relationen deutlich zu
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