Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
einer Normalstation: Eine Pflegekraft sollte dort höchstens für zwei Patienten zuständig sein. Das empfehlen jedenfalls die wissenschaftlichen Fachverbände, zum Beispiel die Deutsche Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin 29 . Aber um diese Empfehlungen scheren sich viele Krankenhäuser offenbar herzlich wenig. »Nur zwei Patienten, das ist schon fast Luxus«, so Ulrike Waerder, »drei Patienten sind die Regel, manchmal sogar vier.«
An solchen »Luxustagen« geht sie zufriedener nach Hause. Dann hat sie das Gefühl, ihrem Beruf wieder gerecht zu werden, auch mal Zeit zu haben für Zuwendung und Fürsorge. Und sie ist innerlich ruhiger. Wenn sie drei Patienten zu versorgen hatte, oder sogar vier, denkt sie nach Dienstende immer noch darüber nach, ob sie in der Hektik vielleicht doch etwas vergessen oder verwechselt hat.
Das »Pflege-Thermometer« warnt: Patientensicherheit in Gefahr
Übertrieben? Zufall? In Köln befindet sich ein kleines Institut, das die Versorgung auf Intensivstationen gerade erst untersucht hat. Es liegt in einer Seitenstraße, äußerlich recht unscheinbar, doch in dieser Büroetage ist wohl das umfangreichste Wissen über die Pflegesituation in Deutschland gesammelt. Unzählige Fragebögen haben die Wissenschaftler hier schon ausgearbeitet und an tausende Pfleger und Schwestern verschickt. Michael Isfort ist der Leiter dieses Instituts und hat den Ehrgeiz, den Ernst der Lage so fundiert wie möglich zu beschreiben, so viele Fakten wie möglich zu präsentieren, in der Hoffnung, die Politik mit seinen Berichten aufrütteln zu können. Michael Isfort ist Professor für Pflegewissenschaften an der Katholischen Hochschule in Köln, daher rührt auch das Kreuz hinter seinem Schreibtisch. Bevor er Pflegewissenschaften studiert hat und zum Professor berufen wurde, war er selbst Krankenpfleger. Jetzt entwirft er nicht nur wissenschaftliche Studien, er unterrichtet auch Krankenschwestern, Pfleger und Studenten, weiß deshalb aus erster Hand, wonach er fragen muss, um Missstände genau zu erfassen.
Alle zwei Jahre veröffentlicht Michael Isfort das in Fachkreisen allseits anerkannte »Pflege-Thermometer«. Es liest sich wie ein Seismograph, der seit Jahren drohendes Unheil registriert. Mit diesen Berichten hat sich Isfort freilich nicht überall Freunde gemacht, vor allem nicht bei den Funktionären der Deutschen Krankenhausgesellschaft in Berlin. Dem einflussreichen Lobbyverband der Kliniken gefallen die Studien des katholischen Instituts überhaupt nicht.
Isforts Berichte lassen keinen Zweifel aufkommen: Die pflegerische Betreuung in den Krankenhäusern hat sich seit Einführung der Fallpauschalen verschlechtert. Die Patientensicherheit sei in Deutschland auf Normalstationen nicht mehr gegeben. So lautet das Ergebnis seiner Untersuchung aus dem Jahr 2009.
Jetzt hat er sich die Intensivstationen vorgenommen: An insgesamt 534 Kliniken wurden ausführliche Umfragebögen verschickt. Nicht einzelne Schwestern oder Pfleger wurden befragt, sondern die Verantwortlichen auf den Stationen, diejenigen also, die Dienstpläne erstellen, den Überblick haben und bei denen die Fäden zusammenlaufen, wenn es besondere Vorkommnisse gibt.
Diese Untersuchung bringt genau das ans Tageslicht, was die freiberuflich tätige Krankenschwester Ulrike Waerder in den verschiedenen Krankenhäusern wiederholt erlebt hat. Eine Pflegekraft – zuständig für drei Intensivpatienten. Dass Fachverbände empfehlen, wegen der Patientensicherheit solle höchstens eine Pflegekraft für zwei Intensivpatienten zuständig sein, scheint die meisten Krankenhäuser nicht zu interessieren. Für Isfort ist das nicht akzeptabel: »Da geht es nicht mehr darum, dass die Pfleger zu wenig Zeit haben, um mit Patienten zu sprechen. Die Patientensicherheit ist in Gefahr.« Und: »Solche Risiken brauchen wir in einem Land wie Deutschland nicht auszuhalten.«
Isfort weiß, wie schnell auf einer Intensivstation schon die kleinste Unachtsamkeit schlimmste Folgen haben kann. Das ist ja der Grund, warum die Fachverbände solche Empfehlungen ausgesprochen haben. Michael Isfort blickt in das gegenüberliegende Zimmer, wo die Stapel mit den Fragebögen auf den Tischen liegen, dort, wo die Studenten saßen und die Antworten in den Computer eingegeben haben. Dann ruht sein Blick wieder auf den Auswertungen am Bildschirm, streift die lange Liste der Versäumnisse und Mängel, die nun nacheinander am Computerbildschirm aufgeblättert werden. Ihm
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