Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Schauspielern oder Journalisten im Fernsehen. Völlig okay, so lange es Grenzen hat und jemand ein bisschen über sich dabei lachen kann. Aber gerade bei den Oberärzten findet sich ein unfassbarer Bierernst, ein fester Glaube an die eigene Unantastbarkeit und Erhabenheit. Ganz schlimm. Gehen Sie mal zu einer Ordinarien-Jahressitzung – das halten Sie für Realsatire. So salbungsvoll geht es da zu. Ich nenne das Realitätsferne. Die Chirurgen sitzen in einem System, das ihnen lange Zeit erlaubt hat, nach unten maximal zu treten, und über ihnen ist der blaue Himmel. So war der Normalzustand eines Chefchirurgen. Früher hat sich das ja auch gelohnt. Da galt das klare Prinzip: zehn Jahre als Sklave arbeiten. In der Zeit wird man gebeutelt und ist nichts wert. Und dann ist man endlich Chefchirurg und rechnet ordentlich ab. Man arbeitet nicht mehr so viel und schreibt fette Liquidationen. So hat das System sehr lange funktioniert und hat viele Leute überzeugt mitzumachen. Doch die Rechnung geht jetzt nicht mehr auf. Ein Chefarzt hat weder in Personal- noch in Budgetfragen viel zu sagen. Die neuen Chefärzte kriegen solche Verträge wie früher nicht mehr, sie haben solche Arbeitsbedingungen nicht mehr, und es herrscht unglaublicher Frust, unglaubliche Aggressivität. Gerade bei vielen älteren Oberärzten. Sie haben mal angefangen mit dem Bewusstsein, sich zehn Jahre lang zu knechten, dann aber am Fleischtopf zu sitzen. Doch die Spielregeln verändern sich, der Lebensplan bricht weg. Sie fühlen sich verloren. Was sollen sie bloß machen? Ich kenne ja die Transplantationschirurgie aus eigener Anschauung: Ein Leberchirurg ist hochgradig spezialisiert, er ist geradezu ein Dinosaurier. Es gibt nur ein paar Zentren in Europa, wo er arbeiten könnte – und dann ist Ende. Seine Qualität, seine Fähigkeiten nützen nichts in einer Hausarztpraxis. Er ist auf Gedeih und Verderb dem System ausgeliefert. Seine Abhängigkeit beginnt vom ersten Tag der Weiterbildung an. Ein Weiterbildungsassistent in der Chirurgie ist sechs Jahre lang vollständig unterworfen. Irgendwann im dritten Jahr merkt er: »Mein Ausbildungskatalog mit den vorgeschriebenen OP s ist leer, ich kann noch nichts. So was Blödes. Dann halt ich schön dem Chef die Tür auf und mache alles mit.« Und jeden Tag wird ein kleines bisschen mehr gegen die eigenen Überzeugungen verstoßen. Patienten werden aufgeklärt für OP s, von denen der Assistenzarzt weiß, dass sie eigentlich gar nicht so gut sind. Oder nach den OP s werden ihnen Halbwahrheiten verkauft. Oder Kleinigkeiten verschwiegen. Dass die Wunde nicht richtig zuging. Dass es richtig geblutet hat oder der Schlauch an der falschen Stelle war. Diese Anpassung wird nicht von oben angeordnet, da gibt kein Vorgesetzter plötzlich einen illegalen Befehl. Es handelt sich um vorauseilenden Gehorsam. Sie wissen: Wer in Ungnade fällt, muss dauernd auf Station Dienst schieben oder in der Ambulanz. Aber dort bekommt man ja nicht die Ausbildungsbausteine für den Katalog zusammen, sondern nur »im Saal«, am OP -Tisch.
Garantiert bin ich ein antiautoritärer Typ, beim Militär hatte ich auch die Begabung, mich mit allen möglichen Leuten anzulegen. In der Klinik habe ich schnell gemerkt, dass ich mich in einem ultraautoritären System befand. »Oberarzt« – der Begriff kommt ja aus dem Militär, er bezeichnete in Preußen einen Dienstgrad. Und diese Geisteshaltung ist noch da. Man soll sich hochdienen. Chefs wollen nicht führen, sondern unterwerfen. Für jemand, der eine natürliche Abneigung gegen Hierarchie hat, ist das eine unerträgliche Umgebung. Meine naive Überlegung damals zu Beginn: Ich interessiere mich für den Beruf, das Drumherum werde ich ignorieren, ich werde nicht so wie die anderen. Aber von Anfang an funktionierte das nicht. Der Preis war zu hoch. Mit jedem Mal, wenn Sie auch nur ein bisschen gegen Ihre Überzeugungen verstoßen, geben Sie etwas auf. Und irgendwann fangen Sie an, das Verschweigen und Verdrehen zu rechtfertigen, und schaffen sich eine eigene Realität. Am Ende glauben alle, dass das System seine gottgegebene Richtigkeit hat. Dass es so sein muss.
Klar, ich bin daran gescheitert. Und ich bereue es kein Stück. Unter Honorarärzten kenne ich einige, die das System genauso kritisch sehen. Häufig solche, die lange Klinikzeiten hinter sich haben und dann irgendwann ausgestiegen sind. An den Kliniken kenne ich keinen. Dass Ärzte, insbesondere der Nachwuchs, es wagen, die Missgunst
Weitere Kostenlose Bücher