Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
machen: In der Schweiz hat eine Krankenschwester im Durchschnitt sieben bis acht Patienten zu versorgen, in Norwegen fünf.
Es ist geradezu grotesk, was sich das reiche Deutschland leistet. Und es ist gefährlich. Aus internationalen Studien weiß man, dass ein direkter Zusammenhang besteht zwischen der Zahl der Pflegekräfte und der Häufigkeit von Infektionen, Lungenentzündungen, Stürzen, ja dass sich sogar die Sterblichkeit erhöht, wenn die Zahl der Pflegekräfte pro Patient reduziert wird. Die renommierte amerikanische Professorin Linda Aiken von der Universität Pennsylvania weist dies seit vielen Jahren in Studien nach. Die Ergebnisse sind eindeutig: Je stärker die Arbeitsbelastung, je weniger Personal vorhanden ist, desto höher ist die Sterblichkeit. Auch die Qualifikation ist relevant. Gut ausgebildete Schwestern und Pfleger, die lange auf derselben Fachstation gearbeitet haben, entwickeln ein unschätzbares Erfahrungs- und Expertenwissen, können Risiken besser einschätzen, wissen vielleicht eher, was zu tun ist, wenn ein Patient nach einer Operation zum Beispiel über Lungenschmerzen klagt, ob sie den Patienten nur anders lagern müssen oder ob eine Lungenembolie droht. Je spezifischer das Pflegepersonal qualifiziert ist, desto niedriger ist das Risiko für möglicherweise auch tödlich verlaufende Komplikationen 26 .
Diese Zusammenhänge werden von Gesundheitspolitikern in Deutschland und von den Funktionären der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Lobbyverband der Kliniken, schnell mit dem Hinweis abgetan, man könne Daten aus anderen Ländern nicht einfach auf Deutschland übertragen. Selbst wenn dies so wäre, hätte man in Deutschland diese Fragen längst untersuchen müssen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ( IQW iG), das im gesetzlichen Auftrag die Qualität der Medizin und des Gesundheitswesens in Deutschland bewerten soll, hat im Jahre 2006 in einem ausführlichen Gutachten auf diesen Mangel hingewiesen und gefordert, dass die Gesundheitspolitiker dieses Problem ernstnehmen und entsprechende Studien in Auftrag geben müssten 27 . Doch es hat sich niemand dafür interessiert, weder die Politik noch die Deutsche Krankenhausgesellschaft.
An der Universität Bremen, am Zentrum für Sozialpolitik, versucht Sozialwissenschaftler Bernhard Braun eine solche Studie durchzuführen. Doch bisher kommt er nicht recht voran. Die Untersuchung krankt daran, dass die Krankenhäuser die Daten nicht herausgeben, die er dafür benötigt. Mit wie viel Pflegepersonal die Patienten auf welchen Stationen versorgt werden und wie qualifiziert diese Mitarbeiter sind, das ist ein gut gehütetes Geschäftsgeheimnis. Das Bundesgesundheitsministerium könnte die Krankenhäuser zur Offenlegung dieser Daten gesetzlich verpflichten, doch bisher gibt es dazu keine Initiative.
Es scheint, als wollte man lieber nicht so genau erfahren, wie sich die Pflegeausstattung auf Komplikationen und Sterblichkeit von Patienten auswirkt. Denn dann müssten Konsequenzen folgen, dann müssten Politiker dazu übergehen, zum Beispiel einen Personalschlüssel gesetzlich vorzuschreiben. Das würde das Geschäft der Kliniken stören.
In jeder Fallpauschale ist für jede Krankheit zwar auch eine bestimmte Summe für den Pflegeaufwand kalkuliert, doch ob die Kliniken dieses Geld für Krankenschwestern oder für einen neuen Operationstisch ausgeben, kontrolliert keiner. Es ist alles ins Ermessen der Klinik selbst gestellt.
Es gibt Kliniken, die mit drei ausgebildeten Pflegekräften am Tag eine chirurgische Normalstation mit 35 Betten betreiben, mit zwei Krankenpflegern in der Spätschicht, und in der Nacht ist eine Pflegekraft allein verantwortlich. Das sind gefährliche Experimente und mit dem pflegerischen Aufwand in der Zeit vor der Einführung der DRG s nicht zu vergleichen. Denn als die Krankenhäuser noch nach Liegetagen abrechnen konnten, war ja ihr Bestreben, die Patienten so spät wie möglich zu entlassen. Dadurch war ein Teil der Betten mit fast Gesundeten belegt, die keine Arbeit mehr machten. Es war also nicht so gefährlich und riskant, wenn beispielsweise eine Nachtschwester 35 Patienten zu betreuen hatte.
Heute ist das völlig anders. Die Abrechnung nach Fallpauschalen gibt einen anderen Rhythmus vor: schneller Wechsel, Aufnahme, Operation, Entlassung – und das mit weniger Personal und mit einer Million mehr Patienten. Kein Wunder, dass sich in den Krankenhäusern sogenannte
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