Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
»Überlastungsanzeigen« häufen. Das ist eine Art Hilferuf auf einem Blatt Papier, das Pflegekräfte ausfüllen und ihren Vorgesetzten auf den Tisch legen, wenn sie den Eindruck haben, dass sie ihren pflegerischen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen können. Die Hürde, zu diesem Mittel zu greifen, ist ziemlich hoch, sagen Insider. Denn die Geschäftsführer sehen solche Anzeigen nicht gerne und setzen Krankenschwestern und Pfleger unter Druck, davon Abstand zu nehmen. Wenn Schwester und Pfleger dennoch schriftlich anzeigen, dass die Station unterbesetzt ist und dass sie nicht mehr alle Patienten ausreichend versorgen können, muss der Arbeitsdruck enorm hoch sein.
Mittlerweile merken die Klinikmanager offenbar selbst, dass sie zu weit gegangen sind. Sie suchen wieder nach Pflegepersonal, insbesondere für anspruchsvolle Arbeiten, auf Intensivstationen oder für den Operationssaal. Doch qualifizierte Kräfte fehlen. Und: Der Nachwuchs bleibt aus. Das ist kein Wunder, denn in Deutschland ist die Stimmung unter Pflegekräften extrem schlecht. Ein Drittel der Pflegekräfte gibt in Befragungen an, sie würden ihren Kindern und Freunden nicht mehr dazu raten, diesen Beruf zu ergreifen. Genauso viele sagen, sie fühlten sich extrem erschöpft, und planten, den Beruf zu wechseln. Dagegen hilft keine Imagekampagne. Das nennt man eine Abstimmung mit den Füßen 28 .
Schnelles Durchschleusen, mehr Umsatz, keine Zeit
Andere versuchen, aus der Not eine Tugend zu machen, doch das ist nicht jedermanns Sache. In Bad Neuenahr-Ahrweiler, in der Nähe von Bonn, kommt Ulrike Waerder von ihrem Einsatz. Sie arbeitet gerade auf einer kardiochirurgischen Intensivstation. Die 57-Jährige ist erschöpft, die Füße tun weh, sie lächelt. Es ist alles einigermaßen glatt gelaufen, an diesem Tag, nichts Schlimmes vorgefallen. »Schwester Ulrike« rufen die Patienten sie.
Die Intensivschwester hat vor ein paar Jahren eine ungewöhnliche Entscheidung getroffen. Sie gab ihre feste Stelle auf. Die zunehmende Arbeitsverdichtung, die ständige »Rufbereitschaft«, die überbordenden Überstunden, weil mal wieder mehr Arbeit anstand und der Ausfall kranker Kollegen auszugleichen war, machte sie unzufrieden und krank. Seitdem arbeitet sie selbständig als freiberufliche Krankenschwester und lässt sich auf Honorarbasis buchen, immer für eine begrenzte Zeit. Dazwischen legt sie eine Pause von mindestens einer Woche ein. »Das muss sein«, sagt sie, »anders hält man dieses Arbeitstempo nicht aus.« Auf ihrer Internetseite verweist sie auf ihre langjährige Berufserfahrung und ihre besondere Qualifikation, in der Intensivpflege, als Narkoseschwester, in der Herzchirurgie. Das hat nicht jeder vorzuweisen, und vielleicht wird Ulrike Waerder deshalb mit Anfragen überschüttet. Sie kann sich die Kliniken sogar aussuchen, bekommt Honorare, von denen eine fest angestellte Krankenschwester nur träumen kann.
Seit 2009 arbeitet sie so. Viele Kliniken hat sie von innen gesehen: kirchliche, private, kommunale, städtische. Sie weiß, wie es zugeht. Der Druck hat überall zugenommen, so ihr Fazit. Der Druck, das Intensivbett so schnell wie möglich frei zu machen – weil ohne ein freies Bett auf der Intensivstation bestimmte Operationen nicht stattfinden können. Immer im Eilschritt, immer hochkonzentriert, immer auf dem Sprung. Sie stört, dass zu wenig Zeit ist, mit Patienten und Angehörigen zu sprechen. Dass sie nicht am Bett sein kann, wenn Patienten aufwachen und sie unruhige Patienten stattdessen fixieren muss. Dass Sondenkost gegeben wird oder Trinkpakete dazu, weil nicht genug Zeit da ist, ältere Menschen zu füttern, die beim Essen langsamer sind oder Schluckstörungen haben. Ganz zu schweigen von der adäquaten Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen.
Sie hat längst das Gefühl, »Teil einer Maschinerie« geworden zu sein. Eine Maschinerie, die Ziele verfolgt, die mit ihren eigenen Bedürfnissen und denen der Patienten nicht mehr richtig zusammenpassen. »Schnelles Durchschleusen muss sein, damit mehr Umsatz gemacht werden kann.« Das belastet sie, auch emotional. Der Patient werde immer weniger als Mensch wahrgenommen – und die Pflegekräfte ebenfalls: »Wir sind ja keine Roboter. Ich bin auch nur ein Mensch und muss mal durchatmen können, wenn es einem Patienten schlecht geht, wenn Angehörige verzweifelt sind oder wenn jemand stirbt.«
Auf einer Intensivstation geht es um Leben und Tod. Da gelten andere Anforderungen als auf
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