Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
wird dabei schwindlig. Es ist vor allem das Ausmaß, das ihn erschreckt: Jede dritte Intensivstation gibt an, dass es in den vergangenen sieben Tagen zu einem gravierenden Medikationsfehler kam. 73 Prozent berichten über Mängel bei der Händehygiene, und 85 Prozent sagen, sie seien zu »vermeidbaren freiheitseinschränkenden Maßnahmen« gezwungen.
Michael Isfort erklärt, was sich hinter diesem Wortungetüm verbirgt: Patienten werden am Bett festgebunden, weil zu wenige Pflegekräfte da sind, um sie zu überwachen. Sie werden länger als nötig beatmet und mit Medikamenten ruhiggestellt, nicht, weil es ihre Krankheit erfordern würde, sondern weil die Personaldecke zu dünn ist, um sie aufwachen zu lassen. Noch etwas gibt Isfort zu denken: Über 50 Prozent der Kliniken geben an, dass sich Patienten selbst verletzt haben, zum Beispiel weil sie verwirrt waren und sich Injektionsnadeln oder Blasenkatheter aus Versehen selber zogen. Vor allem Letzteres kann gravierende Folgen haben. Früher, so Isfort, gab es das auch, aber in Einzelfällen: »Jetzt hat es ein Ausmaß angenommen, das wir nicht mehr verleugnen können.«
Die Ergebnisse gehen dem ehemaligen Pfleger unter die Haut, das spürt man. Er weiß, dass Pflegekräfte mittlerweile unter Bedingungen arbeiten, die das Schicksal geradezu herausfordern. Es geht nicht darum, Fehler auszuschließen, sie werden billigend in Kauf genommen, da ist sich Isfort sicher.
Er selbst würde seine Eltern im Krankenhaus selbst überwachen, das Risiko für einen folgenschweren Pflegefehler sei ihm zu groß. Panikmache? Nein. »Es gibt nicht mehr die Sicherheit, dass man nach einer Operation genug Leute um sich hat, die sich gut um einen Patienten kümmern.« Und: »Das betrifft jeden, der in besonderem Maße schutzbedürftig ist, nicht nur die Alten mit Demenz.«
Das DRG -System führt zu grotesken Effekten. Es fördert unnötige Operationen und Eingriffe, die für Patienten keinen Nutzen haben, aber für das Krankenhaus einträglich sind. Was danach kommt – Pflege, Zuwendung, Überwachung – bringt keine zusätzlichen Erlöse, also wird es ausgedünnt, denn in der DRG -Logik, aus dem Blickwinkel des Betriebswirts, der im Krankenhaus sitzt und rechnet, ist das ein reiner Kostenfaktor 30 .
Überversorgung hier und Unterversorgung da sind also zwei Seiten derselben Medaille. Was sich für das einzelne Krankenhaus rechnen mag, ist für die Gesundheitsversorgung insgesamt eine dramatische Fehlentwicklung.
Er sei ungeduldig und wütend, sagt Isfort. Schon so lange liefere er der Politik alle Daten, die sie bräuchte, um zu handeln. Die Politik könnte der betriebswirtschaftlichen Logik der Krankenhäuser Grenzen setzen und pflegerische Standards gesetzlich vorschreiben. Für Intensivstationen bräuchte sie nur die Empfehlungen der Fachgesellschaften zur Grundlage nehmen und als Norm ins Gesetz schreiben: Dass eine Pflegekraft höchstens für zwei Intensivpatienten zuständig sein darf. Jetzt sind es eben nur Empfehlungen, an die sich Kliniken nicht halten müssen. Und die Studie von Professor Michael Isfort zeigt, was Empfehlungen wert sind, wenn Kliniken wirtschaftlich unter Druck geraten oder Renditen erwirtschaften müssen.
Es wäre genauso möglich, für Normalstationen gesetzliche Standards für die Personalausstattung vorzugeben. Die SPD hat das allerdings in acht Jahren Regierungszeit nicht gewagt. Denn ein solches Vorhaben stößt auf den vehementen Widerstand der mächtigen Krankenhauslobby in Berlin. Die will solche gesetzlichen Vorgaben nicht. Die Debatte darüber wehrt ihr Hauptgeschäftsführer Baum mit dem Argument ab, es gäbe zurzeit gar nicht genügend qualifiziertes Personal, darum benötige man auch keine gesetzlichen Standards. Ein widersinniges Argument, denn solche gesetzlichen Vorschriften würden die Kliniken zwingen, ausreichend Nachwuchs auszubilden und die Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass der Beruf für Krankenschwestern und Pfleger, die sich resigniert zurückgezogen haben, wieder attraktiv wird.
Das Bundesgesundheitsministerium liegt übrigens ganz auf der Linie der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Vielleicht auch deshalb, weil der Hauptgeschäftsführer des Lobbyverbands Georg Baum heißt und ebenfalls FDP -Mitglied ist. Eine Zeitlang war Baum als möglicher FDP -Gesundheitsminister im Gespräch. Heute pflegt Baum einen guten Draht zu Daniel Bahr. Und auch Bundesgesundheitsminister Bahr will die Personalfrage weiterhin dem Markt
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