Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
arbeitsmarktpolitische Realität geworden ist, die sich heute nicht mehr wegdenken lässt. Ohne die Bundesfreiwilligen wären viele soziale Einrichtungen ernsthaft bedroht. Vor allem weil ihr Stellenwert in unserer Gesellschaft und in der Politik in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich gesunken ist, wären die Sozialträger kaum imstande, die von den »Billigkräften« geleistete Arbeit durch Angestellte zu ersetzen.
Vor dem Hintergrund einer älter werdenden Bevölkerung gewinnen freiwillige Kräfte immer mehr an Bedeutung. Die Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre lassen es aber mehr als fraglich erscheinen, ob auch die politischen Weichen gestellt werden, diese Säule der Gesellschaft zu stützen. Schon in der Pflege kann man feststellen, wie Verantwortung zunehmend in den häuslichen und privaten Bereich verlagert wird, weil dies billiger ist. Im Krankenhaus lässt sich das aufgrund der medizinischen Erfordernisse naturgemäß nicht bewerkstelligen. Aber auch hier versorgen Menschen andere Menschen. Und das heißt: Auch hier muss zuallererst umgedacht werden, zum Wohle der Versorger und der Versorgten. Dringend. Es ist und bleibt eine Frage der Zeit.
Jan Schmitt
31 Sämtliche Namen in diesem Kapitel wurden geändert.
Die Verletzte
K. D., Patientin
Beim Treffen erzählt sie einen verbreiteten Ärztewitz:
Ein Chirurg, ein Pathologe, ein Internist und ein Psychologe gehen auf Entenjagd. Über einem Teich fliegt ein Schwarm Vögel empor.
Der Psychologe: »Sehen aus wie Enten. Aber fühlen sie sich wie Enten?«
Der Internist: »Enten? Könnte sein. Aber ich muss noch eine CT zusätzlich machen.«
Der Chirurg sagt nichts, lädt durch und holt Dutzende Vögel vom Himmel. Und sagt dann zum Pathologen: »Lauf mal hin und schau, ob eine Ente dabei ist.«
K. D. vertraut Ärzten, insbesondere Chirurgen, nicht mehr. Sie hat eine überflüssige, bedrohliche OP hinter sich und ist seitdem sehr misstrauisch. Ob irgendjemand glaube, dass sich ein Arzt ständig fortbildet? Sich vor einer OP hinsetzt und Fachliteratur liest? Ihr Leben lang war sie im eigenen Beruf gefordert, sich neue Techniken anzueignen, zu vergleichen, Fortbildungen zu besuchen. Wer verschafft Ärzten Zeit und Freiraum, in ihrem Fach auf dem Laufenden zu sein? Möchten sie überhaupt dazulernen? Vorsichtig ausgedrückt hält sie viele Ärzte für maulfaule Wesen, die schnell und leicht Geld verdienen wollen und keine Fehler zugeben. Sie bringt Zeitungsartikel mit, in denen von Aktenmanipulation bei verpfuschten Operationen die Rede ist.
K. D. will anonym bleiben, weil sie sich viel zu sehr über sich selbst ärgert. Dass sie damals einen Diagnosemarathon widerspruchslos über sich ergehen ließ. Dass sie alles mit sich allein ausmachte, auch die Entscheidung, sich operieren zu lassen. Dass sie, eine angstfreie Persönlichkeit, ihre behandelnden Ärzte später nicht zur Rechenschaft zog. Weder von Angesicht zu Angesicht noch juristisch. Inzwischen seien die Herren pensioniert. Immer wieder fällt in unserem Gespräch der Satz: »Sie haben mich verrückt gemacht, das war subtiler Psychoterror.«
K. D. hatte früher stets Respekt vor Profis, vielleicht weil sie selbst in ihrem Fach eine anerkannte Spezialistin ist, so mutmaße ich. Als sie krank wurde, war es darum selbstverständlich, die Autorität von den Fachleuten in Weiß zu akzeptieren.
Sie spricht geradeaus, eine Frau aus dem Leben. K. D. ist eine berufstätige, alleinstehende Frau, die sehr viel Wert auf Disziplin, auf Ästhetik und Ordnung legt. In ihrer Wohnung, in ihrer Kleidung, in ihrem Aussehen. Aber als sie mir eine 25 Zentimeter lange Narbe auf ihrem Bauch zeigt, wird die Stimme zögerlich. Die hässliche Erinnerung an die schlimmsten Wochen ihres Lebens. Ich kann mir ausmalen, dass sie die Narbe als Schimpf empfindet. Als fleischgewordene Niederlage.
Man kann dieser Ärzteschaft keinen Menschen überlassen
Protokoll eines Übergriffs
Es begann mit einem sehr, sehr starken Schwindel, ich konnte kaum noch alleine gehen und habe mich deshalb selber ins Krankenhaus eingewiesen. Dort haben sie festgestellt, dass ich einen exorbitant hohen Blutdruck hatte, haben mir irgendwas unter die Zunge gelegt, und schließlich ist der Blutdruck langsam runtergegangen. Dann hieß es aber: Das war so stark, sie müssen mich stationär aufnehmen.
Warum ich ins Krankenhaus und nicht zu einem Arzt ging? Eine Freundin von mir hatte dort ihr Praktisches Jahr als Ärztin gemacht. Sie überzeugte
Weitere Kostenlose Bücher