Entfernte Verwandte: Kriminalroman
härteren Ton über. »Ich schicke dir eine Liste von einigen Baustellen und eine Kontrollkarte der Gewerkschaft. Lass den Matti Kiuru nach diesem Wadajew fragen. Mit dem reden die Leute eher als mit dir«, riet er.
Wir schüttelten uns die Hand. Minkinen ging Kääriäinen nach, kam noch einmal zurück und rief:
»Du suchst doch nicht etwa aus anderen Gründen nach diesem Wadajew? Wegen irgendwelcher Schulden?«
»Nein. Er ist wirklich mein Verwandter. Und verschwunden.«
An der Ampel warf ich einen Blick in den Rückspiegel, betrachtete meine grauen Augen und meine gerade Nase und erinnerte mich, wie meine Verwandten die Hände zusammenschlugen und ausriefen, mein liebes Gottchen, der Viktor ist das Ebenbild seines Opas.
Plötzlich zerriss es mir das Herz vor Heimweh nach Karelien und Sortavala. Auch nach Mutter sehnte ich mich. Ich fühlte die von der Sonne hartgebackene Erde auf dem Hof unter meinen Fußsohlen. Ich spürte die feuchte Hitze des Gewächshauses, das vielfarbig duftende Reifen der Tomaten und Gurken. Und ich trauerte darüber, dass Mutter ihre kleinen Freuden nicht mehr genießen durfte, die Blumen, die auf den Beeten der Reihe nach in schüchterner Pracht aufblühten, oder die Sanftheit des Abends, wenn sie auf dem Hof auf der Schaukel saß und keine Eile hatte. Und jetzt hatte ich sie nicht mehr, meine Mutter.
Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ich Menschen hatte, um die ich mich kümmerte, Anna und Marja und auch die Männer in meiner Firma. Ich hatte ein gutes Haus und ein Auto, das surrte wie eine feine Uhr.
Die Ampel sprang auf Grün, und hinter mir hupte jemand.
22
Dorf Porajärvi, Bezirk Suojärvi, Republik Karelien, Russland
Warwara Wadajewa drehte vorsichtig den Schlüssel um, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Sie schlug das Kreuz und murmelte ein Gebet. Es machte ihr ein wenig Angst, das leere Haus zu betreten. Ich bin doch kein dummes junges Mädchen mehr, versuchte sie sich Mut zuzusprechen. Und das Haus kenne ich ja, das Zuhause meines Sohnes.
Wenn doch mit Pawel nur alles in Ordnung wäre, sorgte sich Warwara zum tausendsten Mal. Freilich hatte sie protestiert, als Xenja ihrem Mann nachreisen und obendrein noch den Jungen, den kleinen Serjoscha, mitnehmen wollte.
Männer bleiben manchmal ein Weilchen aus, hatte Warwara die Sache heruntergespielt. Sie erinnerte sich noch gut an all die Male, als Jefim mit dem Motorrad zu einer Stippvisite ins Dorf gefahren und erst nach einer Woche zurückgekommen war und dann eine zweite Woche jammernd und klagend in der Sauna gelegen hatte.
Friede deiner Seele, möge dir die Erde leicht sein, bekreuzigte sich Warwara, sie wollte ihren verstorbenen Mann nicht verleumden. Aber ein Trinker war mein Jefimka, dachte sie. Das war er, und wenn er noch so beteuerte, nur zum Aufwärmen, weil einem bei der Waldarbeit die Kälte bis in die Knochen kriecht. »Und warum trinkst du jetzt, frierst du etwa?«, hatte Warwara im Sommer gestichelt. Doch dann hatte er ihr leidgetan, als er die Schultern hängen ließ, als wolle er aufgeben. Warwara hattebegriffen, dass Jefim genug gequält worden war. Zuerst hatte er sich jahrelang im Krieg fürchten müssen und danach auch noch bei den Verhören. Die Verhöre damals, die haben seine Männerwürde gebrochen, seufzte Warwara. Sie wusste, dass ihr Mann unter Zwang gegen Nachbarn und Verwandte ausgesagt hatte. Jefim war dem Lager entgangen, aber er hatte sich selbst zu lebenslänglich verurteilt.
Warwara schöpfte Wasser aus dem Eimer, füllte es in die Kanne mit der angeschlagenen Tülle und begann die Blumen ihrer Schwiegertochter zu gießen. »Ai jai jai … die Eberesche wächst am Ufer heran, ein junges Mädchen hübsch und fein … doch einem andern gehört sie an«, sang sie auf Finnisch, während sie von einem Blumentopf zum anderen ging.
In Pawels und Xenjas Schlafkammer konnte Warwara nicht an sich halten. Sie schaute in die Kommodenschubladen. Sie schnaubte verächtlich über Xenjas Unterwäsche, eine verheiratete Frau aus dem Dorf, Mutter eines kleinen Kindes, und trägt solch frivole Dessous. Aber so war Xenja eben. Pfui! Warwara tat, als spucke sie aus, und schlug die Hände zusammen.
Zwischen Slips und Strümpfen lagen auch die Dinger, deren Namen Warwara nie über die Lippen gebracht hätte. Als sie jünger war, fragte man in der Apotheke danach, unter der Produktbezeichnung »Gummiobjekt Nummer 2«. Oder man hätte danach gefragt, wenn es welche gegeben hätte,
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