Entfernte Verwandte: Kriminalroman
Tisch. Sergej ging zuseiner Mutter, fasste sie am Rocksaum und sah mit altkluger Besorgnis zu ihr auf. Anna kam jauchzend angelaufen, stürzte sich auf mein Bein und versuchte, auf meinen Schoß zu klettern.
»Vitto äppä«, sagte sie. In meinen Ohren klang es jedenfalls so.
»Viktor Kärppä. Anna hat Viktor Kärppä gesagt«, triumphierte ich, fasste das Mädchen unter den Armen und stemmte es hoch.
»Die ersten richtigen Worte«, nickte Marja.
Anna hatte sich mit dem Sprechenlernen Zeit gelassen. Die Füße überrennen die Zunge, vor lauter Herumlaufen kommt das Mädchen nicht zum Reden, hatte ich alte Volksweisheiten zitiert, denn Marja machte sich bereits Sorgen.
»Viktor Kärppä«, wiederholte ich und blies dem Mädchen prustend auf den Bauch.
Marja sah zufrieden aus. Aber auch neidisch.
»Der Kerl ist untergetaucht. Oder nach Schweden abgehauen. Vielleicht plant er einen Einbruch. Oder einen Mord?«, überlegte Matti Kiuru.
Er setzte seinen Wagen vom Grundstück auf die kleine Straße zurück und fuhr den steilen Hügel hinunter. Wir hatten noch eine Tasse Tee getrunken, doch dann hatte ich gesagt, bei der Halle treffe bald eine Lieferung ein, die heute Abend noch unter Dach und Fach gebracht werden müsse. Daraufhin hatte Matti sich verabschiedet und war hinausgegangen. Marja hatte spitz gefragt, was denn das für eine Fuhre sei, die nicht direkt bis in die Halle gefahren werden könne, in das hektargroße Ding! Außerdem sei für die Nacht trockenes und warmes Wetter vorhergesagt, folglich sei nicht zu befürchten, dass dieWare nassgeregnet wurde. Ich hatte entgegnet, ich sei kein Experte für Meteorologie, aber diese spezielle Ware würde unter freiem Himmel höchstwahrscheinlich verschwinden und müsse deshalb in Sicherheit gebracht werden. Marja war ein wenig freundlicher geworden, hatte mich nur noch gebeten, vorsichtig zu sein, als Vater eines kleinen Kindes.
»Pawel ist kein Ganove«, sagte ich zu Matti. »Frag nur weiter herum. Du findest bestimmt etwas heraus.«
Was ich Marja erzählt hatte, entsprach fast der Wahrheit. Ich erwartete tatsächlich eine Lieferung, die in Sicherheit gebracht werden musste, aber sie sollte nicht vor meiner neuen Produktionshalle abgeladen werden, sondern in Tattarisuo, hinter meiner ehemaligen Halle, die ich zusammen mit meinen früheren Geschäften an Alexej abgetreten hatte. Anfangs hatte auch ich dort noch Waren gelagert, doch Alexejs Business blühte, und er brauchte alle Regale und jeden Quadratmeter des Betonfußbodens. Unmittelbar hinter dem Grundstück lag ein Schrottplatz, dessen Tore immer geschlossen und mit einem Vorhängeschloss gesichert waren. Ich hatte den Besitzer ausfindig gemacht und die alte Bogenhalle gemietet. Als Erinnerung an die Zeit des Metallsammelns lagen hier und da noch Kupferrohre und Stahlstücke herum. Den Rest der Halle hatte ich mit Dingen gefüllt, deren Entsorgung problematisch war und die ich nicht in meinen neuen Räumlichkeiten aufbewahren wollte.
Der Fahrer des Schnapslasters hatte angerufen, sobald er die Grenzkontrollen in Torfjanowka und Vaalimaa hinter sich hatte, und erklärt, er werde zwischen acht und neun Uhr abends ankommen. Uns blieb also reichlich Zeit, Platz für die Ware zu schaffen.
»Wie viel Schnaps erwartest du?«, fragte Matti.
»Zehntausend Liter.«
»Ziemlich viel.«
»Wenn er in Vierliterkanistern geliefert wird, sind es genau zweieinhalbtausend.«
Matti schwieg eine Weile, er schien nachzudenken. »Für wen ist das Zeug? Du wirst es doch wohl nicht selbst verkaufen?«
»Nein. Rudi übernimmt die ganze Ladung. Er hat viele Lokale.«
Ich fragte mich, ob Matti wohl begriff, dass ich ihm mehr erzählte als nötig und ihm sogar eine eigene Meinung zugestand.
»Eigentlich geht es mich ja nichts an«, meinte er.
»Das darf es aber«, sagte ich.
Matti sah mich an und nickte.
Als wir gerade von der schmalen Wohngasse auf die größere Straße einbogen, schnitt uns ein dunkler Cityjeep den Weg ab. Matti trat voll auf die Bremse, musste aber zum Straßengraben ausweichen, sodass die Schnauze unseres Wagens über dem Nichts hing.
Dem Jeep entstiegen zwei Männer. Der Fahrer hatte ein gutmütiges, fast kindliches Gesicht; er trug eine Brille, ein hellblaues Kurzarmhemd und eine Hose, die etwas zu hoch über den Schmerbauch gezogen war. Der zweite Mann hatte millimeterkurze dunkle Haare und war klein und kompakt wie ein Ringer. Die tiefen Furchen neben seinem Mund zeigten senkrecht nach unten
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