Entfernte Verwandte: Kriminalroman
zurück«, unterbrach Onkel meinen Vortrag. »Ich muss deinen Vorschlag mit dem Boss besprechen.«
Ich lehnte mich in meinem Bürostuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und betrachtete den Marktplatz von Hakaniemi, auf den die Nachmittagssonne brannte.
Dabei dachte ich an Pawel Wadajew, den ich wahrscheinlich nicht wiedererkennen würde, wenn er neben mir an einer Marktbude stände und Erdbeeren kaufte. Ich erinnerte mich an meine Kusine, das kleine Mädchen mit den baumelnden Zöpfen, das eines Sommers urplötzlich zur jungen Frau heranwuchs und dann etwas wurde, worüber Mutter mit den Verwandten tuschelte, wovon sie mir aber nichts erzählen wollte. Und ich dachte an den kleinen Serjoscha, für den Xenja trotz allem die beste und einzige Mutter war und Pawel der liebste Vater, und fühlte mich schuldig, weil ich nur herumsaß und meine Firmenangelegenheiten regelte.
Ich versuchte mir einzureden, dass ich getan hatte, was ich konnte. Irgendwann würde Pawel sich schon finden, sicher hatte er sich nur verlaufen, oder er hatte Mist gebaut und traute sich nicht aus seinem Versteck. Und wenn er auftauchte, würde ich ihm für eine Weile Arbeit geben, versprach ich meinem Gewissen.
Wenn ich nur Arbeit zu vergeben hätte. Um anderen helfen zu können, musste ich meine Geschäfte ankurbeln.
Ich wusste, dass ich genauso argumentierte wie die Industriebosse im Fernsehen, wenn sie Kündigungen rechtfertigten und erklärten, nur ein gesundes Unternehmen könne seinen Arbeitern den Lebensunterhalt garantieren, vorzugsweise möglichst wenigen, die man vielleicht doch lieber nicht fest anstellte, damit man sie je nach Auftragslage beurlauben oder in drei Schichten rund um die Uhr beschäftigen konnte.
Auch an Maxim Frolow und an meine Wohnungen in Punavuori dachte ich, und an Frolows Fangarme, die überall zu sein schienen. Plötzlich war ich mir ganz sicher, dass Frolow mir gefährlich werden konnte und dass ich ihn loswerden musste. Doch wie ich das anstellen sollte, blieb unklar.
Das Handy schnurrte.
»Ja?«, meldete ich mich.
»Der Boss ist einverstanden«, erklärte Onkel. »Du bekommst ein paar Überweisungen auf deine Firmenkonten. Und den Rest bringt dir einer unserer Kompagnons in Euroscheinen.«
Ich bedankte mich, während in meinem Kopf bereits ein Plan entstand, nach dem Oksana Rechnungen fabrizieren und sie in diversen Bankfilialen bezahlen sollte, damit das Bargeld in Umlauf kam und sich auf dem Konto ansammelte, von dem ich zum Schluss die Kautionssumme überweisen würde.
»Eine Frage noch … hier tummelt sich ein Moskauer, Maxim Semjonowitsch Frolow, er beteiligt sich an vielerlei Geschäften … und schadet und stört bei allen. Hat Petersburg etwas mit ihm zu tun?«
»Sag das noch mal, ich schalte auf Lautsprecher.«
Aus Onkels Tonfall war nicht zu erkennen, ob er mich gerade aufgefordert hatte, ein Urteil über mich selbst zu fällenoder über Frolow. Ich wiederholte meine Frage einschließlich der untertänig unschlüssigen Pausen.
»Wir kennen den Mann. So ein Stelzvogel, ein Langbein. Mach mit ihm, was du willst. Wie das Sprichwort sagt, uns bereitet er weder Sorgen noch Schaden, aber er ist auch kein Verwandter von uns, eher im Gegenteil. Du kannst ihn getrost abschlachten. Er ist ein Moskauer …«
Onkel legte lachend auf, bevor ich richtigstellen konnte, dass ich nicht die Absicht hatte, Frolow zu töten. Vermutlich nicht.
Ich war in Sankt Petersburg. Doch selbst im Traum protestierte ich, die Stadt heiße Leningrad, würde für mich immer so heißen. Ich war irgendwo hoch oben und sah zum Fenster hinaus. Die Autos fuhren als leise schnurrendes Band am Ufer der Newa entlang. Auf der zur Brücke abzweigenden Spur kam der Verkehr zum Stillstand, weil ein Lkw mit kurzer Ladefläche auf der Kreuzung stand und der rotbraunen Straßenbahn den Weg versperrte.
Es war ein wolkenloser Tag, doch in der Luft schwebten dünne, fast graue Rauchschwaden. Ich roch sie und malte mir das Hitzeflimmern auf der Straße aus, denn die Wärme strahlte nicht bis nach oben.
Das Fenster ist doch zu, wunderte ich mich. Da schwoll der Verkehrslärm plötzlich an, und ich stand draußen. Die Sonne brannte auf den Asphalt und weichte ihn auf, sodass man beinahe in ihm versank. Auch die Gerüche passten zu einem heißen, sommerlichen Werktag, der stechende Schweißgeruch, den die Menschen verströmten, die miefige Arbeitskleidung und die Abgase, das nur halb verbrannte Benzin mit niedriger
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