Entfernte Verwandte: Kriminalroman
wurden.
Nach Sortavala kehrte dann auch Opa zurück, nach einigen Jahren Zwangsarbeit. Über sein Schicksal sprach er nie. Er lächelte nur mit ernsten Augen und sagte, er habe in seinemLeben manch Böses getan, aber keine der Taten begangen, für die er verurteilt worden war.
Alte Geschichten, was vorbei ist, ist vorbei, hatte Olavi geseufzt, nachdem er mir das alles erzählt hatte. Was dein Großvater wirklich getan hat, kann niemand mehr feststellen. Und irgendjemanden haben wir doch alle schon betrogen, hatte er traurig hinzugefügt.
Es war heiß, obwohl das Fenster offen stand. Ich versuchte, den Schlaf herbeizulocken, ihn mit den sanften Phantasien einzufangen, die ich immer wieder vor meinen Augen abrollen ließ. Ich dachte an Sortavala, dort hatte ich ein Haus, von gleicher Art wie dieses, auch eine Industriehalle, in der Leute arbeiteten. Die Kinder spielten auf dem Hof, in der Sonne, radelten zum Schwimmen an den Ladoga-See …
Ich glitt in einen süßen Halbschlaf. Da begann Anna heftig zu schreien.
»Ich gehe schon«, sagte ich leise.
Ich suchte Annas Schnuller und setzte mich neben ihr Gitterbettchen, beruhigte sie, streichelte den vom Weinen nachbebenden Rücken. Dann ging ich wieder ins Bett. Marja lag in ihrer üblichen Stellung, den Kopf unter dem Kissen.
Ich dachte wieder über Großvater nach, und über Vater und mich selbst. Großvater war im Auftrag der Sowjetunion nach Finnland gekommen, aber hatte er sein Land verraten und sich mit den Finnen verbündet? Und mein Vater, wen hatte er verraten, als er Offizier der Roten Armee wurde, seine Muttersprache aufgab und sich nach dem Willen anderer richtete, die Ungerechtigkeiten vergaß, die man seinem eigenen Vater zugefügt hatte? Und ich, dem das Geburtsland unter den Füßen zerbröckelt war, bevor ich reif genug war, alles zu überdenken, und der dann einfach wegging, alles hinter sich ließ?
Auch ich war dabei, zu betrügen und zu denunzieren, Frolow zu verraten.
Marja gab knarrende Schnarchtöne von sich. Ich ließ sie schlafen, rüttelte sie nicht an den Schultern.
Morgen rufe ich Marjatta an und sage ihr, dass ich nicht mehr komme.
31
Veikko Luoma saß in seinem Büro in Pitäjänmäki und blätterte im Katalog eines Autozubehör-Supermarktes. Genaugenommen war es schwer zu sagen, ob das Büro wirklich seins war. An der Tür stand kein Name, und die Fenster waren mit gelbschwarzer Folie fast ganz zugeklebt. Ich vermutete, dass sich in dem ebenerdigen Raum früher ein Fotogeschäft befunden hatte. Matti hatte die Adresse mühelos herausgefunden. Er hatte die Nummer in Luomas Inserat angerufen, und der Personalvermieter hatte ihm bereitwillig Audienz gewährt.
»Der Herr Unternehmer unternimmt fleißig weiter, obwohl er unter Geschäftsbetriebsverbot steht«, grüßte ich und setzte mich Luoma gegenüber auf einen orangen Plastikstuhl. Matti blieb an der Tür stehen.
Das einzige Möbelstück außer dem Schreibtisch und zwei Stühlen war ein leeres Lundia-Regal, das in krummer Haltung an der Wand stand wie ein zu schnell aufgeschossener Jugendlicher. Das Metallkreuz zwischen den Seitenteilen fehlte, und die Regalbretter machten das Gebilde schief.
»Grüß dich«, sagte Luoma.
Er wirkte nicht im Geringsten überrascht oder erschrocken, obwohl ich ihm bei unserer letzten Begegnung nachdrücklich geraten hatte, sich aus der Baubranche und aus Finnland zurückzuziehen. Ich hatte strikt über meine Interessen wachen müssen, als Luoma einen kontrollierten Konkurs vorbereiteteund sich überlegte, welche seiner Gläubiger am schlechtesten davonkommen sollten.
»Ich betreibe in Finnland keine Geschäfte, meine Firmen sind in Estland registriert. Und dort sind sie ganz legal. Es ist erfreulich, wenn man als Unternehmer eine neue Chance bekommt.«
Luoma gab sich alle Mühe, würdevoll zu sprechen, konnte das mit Raucherhusten vermischte Lachen jedoch nicht lange unterdrücken und musste schon bald die Pilotenbrille absetzen, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
»Meine Tochter hat hier in Helsinki eine Personalvermittlung«, fuhr er fort. »Und soweit ich mich erinnere, hatten wir per Handschlag abgemacht, dass zwischen uns alles geklärt ist.«
»Die alte Geschichte ist in Ordnung«, versicherte ich.
Veikko Luoma sah mich besorgt an, hatte wohl den Verdacht, ich wolle doch noch irgendwelche alten Schulden eintreiben. Luoma war ein Geizhals, der jeden Cent festhielt und sogar leere Flaschen vom Straßenrand
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