Entfernung.
beiden zugewandt. Dann hielt er ihre Hand hoch. Er stelle Thelma vor. Das heutige Modell. Und er habe eine wunderbare Nachricht. »She has all her tufts.« Er sagte das triumphierend. »Wow.« rief jemand. »Bloody good for her.« Und dann applaudierten alle. Alle lächelten Selma zu. Die alte Frau stand an die Wand gelehnt. Sie betrachtete Selma. Und jetzt solle sie sich fertig machen, sagte Sebastian. Er zog sie mit sich. Er führte sie in einen Waschraum. Gleich hinter der Bar. Eine schmale Tür. Wie die Wand gestrichen. Nicht gleich sichtbar. Ein Schminkspiegel wie in einer Theatergarderobe. Durch eine Tür nach links eine Toilette. Sie solle sich nur Zeit lassen. Miss Greenwood. Miss Greenwood sei natürlich sehr altmodisch. Sie bestünde auf dem Miss. Und auch sonst bestünde sie nur auf Regeln. Und am Anfang hielte sie immer eine kleine theoretische Einführung. Heute ginge es um die Nerven. Um die Nervenstränge unter der Haut. »The nerves. Purely anatomically.« sagte er. Grinsend. Während er die Tür schloss. Er zog die Tür noch einmal auf. »Over there.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Spiegel. »Somewhere over there you should find a robe.« Dann zog er die Tür ganz zu. Von draußen war nichts zu hören. Selma war allein.
19
Selma stand da. Sie wartete, bis die Tür geschlossen war. Vollkommen geschlossen. Sie stand still. Horchte. Nur das Summen der Leuchtröhren. Ein feines hohes Summen. Über dem Kopf. Ein Zelt. Beim Zuhören hatte sie den Eindruck, der Ton würde höher. Der Ton würde immer höher. Sie riss sich aus dem Stehen und Zuhören. Die Luft im Raum. Warm und dumpf. Sie konnte keine Lüftung sehen. Beim Herunterkommen in das Lokal. Zuerst war es kühler gewesen. Kühler als draußen. Kühler, aber feuchter. Es war feucht. Hier unten. Sie ging zum Spiegel. Ein Schminktisch. Schminktische sie immer an die Mutter erinnerten. Die Mutter einen Jugendstilschminktisch gehabt. Einer der Reste. Eines der Überbleibsel. Die Mutter der Mutter. Die dann alles zurückgelassen hatte und mit dem Mann weg. Das Kind zurückgelassen. Bei ihrer Mutter. Und der Schwester. Die war als Erste davor gesessen. Die hatte vor dem von Putti umpurzelten und mit Blütengirlanden umspielten Spiegel die Entscheidung getroffen. Das Kind gegen den Mann. Und dann auch nicht glücklich geworden und vom Krieg wieder nach Wien zurückgeschwemmt. Vor solchen Spiegeln. Selma setzte sich an den Schminktisch. Schleiflack. Einmal weiß gewesen. Abgeschlagen. An den Kanten abgeschlagen. Um die Griffe abgewetzt. Sie kannte sich nicht. Sie sah im Spiegel eine hohläugige Person, die etwas tun würde, das sie sich nicht vorstellen konnte. Nicht vorstellen hätte können. Und war das der Unterschied. Wenn die Marianne in den »Geschichten aus dem Wienerwald« nackt in den lebenden Bildern im Nachtclub auftrat. Dann machte sie das aus materieller Not. Wenn sie jetzt da hinausging. Dann war das aus seelischer. Aus spiritueller Not. Sie würde ja nicht verhungern. Sie musste ihren Lebensstil aufgeben. Sie musste nur alles aufgeben, was sie. Sie würde nicht verhungern. Nur vor die Hunde gehen. Unverhungert vor die Hunde gehen. Selma stand auf. Gehen. Davongehen. Das war das Einzige. Aber sie wusste im Aufstehen, dass die Anstrengung davonzugehen. Dass die zu groß war. Zu groß für den Wunsch, es zu machen. Es doch zu machen. Sie hatte das nicht abgewehrt, wie es abzuwehren gewesen wäre. Sie hätte das gleich abwehren können. Gleich am Anfang. Und sie hatte Orakel gespielt. Sie hatte die Entscheidung abgegeben. Sie hatte die Entscheidung sich selber entscheiden lassen. Wenn das echte Modell gekommen wäre. Die bestellte Person. Sie machte das immer. Sie machte das immer so. Sie sollte sich nicht wundern. Über ihr Schicksal. Sie hatte das doch so gemacht. Bei wichtigen Entscheidungen. Die Straße hinuntergehen und sich sagen. Wenn ein Möbeltransporter jetzt entgegenkam, dann würde sie sich so und so entscheiden. So wie die Pferdetransporte auf der Autobahn. Weil sie drei Pferdetransporte überholt hatte. Auf dem Weg von Wien nach Venedig. Deshalb hatte sie sich mit dem Anton. Sie stand da. Das harte Licht von oben. Sie konnte im Schminkspiegel nur ihren Bauch und die Hüften sehen. Sie zog die Jacke aus. Das war richtig. Das hier war ihr Richtplatz. Sie hatte es falsch gemacht. Sie hatte alles falsch gemacht. An den Pranger gestellt zu werden. Das war das richtige Urteil. Sie hatte leichtfertig gelebt. Eilfertig leichtfertig.
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