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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Arme sinken. Ließ sich in die Hüften zusammensinken. Das war nicht so schwierig. Das war wie in der Physiotherapie. Sie schaute sich um. Vorsichtig. Niemand begegnete ihrem Blick. Alle sahen ihren Körper an. Sie schaute über diese Blicke hinweg auf die Schauenden zurück. Konnte ihnen zusehen. Sie fand sich straffen. Den Kopf heben. Es war kühl. Sie hätte lachen können. Kichern. Die sahen sie ja gar nicht. Der eine breitschultrige Mann. Er hielt seinen Stift in ihre Richtung. Nahm Maß. Er kniff ein Auge zusammen. Selma begann zu lachen. Das Lachen stieg aus dem Bauch auf. Sie konnte das Lachen abfangen, bevor es das Gesicht erreicht hatte. Aber der Bauch vibrierte. Die Schultern. Die Kehle. Sie konnte das Zucken nicht verbergen. Die alte Frau kam nach vorne. Sie solle den Arm heben. Das rechte Bein vorschieben. Den Arm heben und ihren Kopf gegen ihren Oberarm legen. Als müsse sie den Kopf verbergen. Und sie solle nach unten schauen. Den Blick senken. »Keep your eyes down.« Und dann solle sie sich drehen. Die alte Frau stieg auf die Bühne. Sie nahm Selma bei den Hüften und drehte sie. Sie stand mit dem Kopf zur Wand. Die Blicke im Rücken. »This is it. My dear.« sagte die alte Frau. Hinter ihr. Sie hörte sie wieder hinuntersteigen. Ob alle sich an die Nervenbahnen im Rücken erinnern könnten. Die alte Frau stieg wieder auf die Bühne. Selma fühlte ihre Hand im Rücken. Ein Finger bohrte sich in die Wirbelsäule. Wanderte die Wirbelsäule hinunter. Erklärte die Nervenbahnen. Der Vorteil eines dünnen Modells wäre, dass die Zusammenhänge der Nerven gut beschreibbar wären. »Are there any questions left?« Die Frau stand neben Selma. Sie roch wie der Morgenmantel. Unausgelüftet. Sie atmete schwer. Die Frau musste Atem holen, wenn sie sich bewegen wollte. Sie war lange nicht so dick wie dieser Priester. Aber sie schien schwerer zu sein. Selma hasste sie. Zuerst war es nur Widerwille gewesen. Gegen dieses An-den-Hüften-herumgeschoben-Werden. Gegen den Finger im Rücken. Dann stieg die alte Frau von der Bühne. Ächzend. Selma blieb stehen. Ihre Haltung von der Frau eingerichtet. Sie konnte die Hand um den Oberarm weiterspüren. Wie die Frau den Arm höher über den Kopf und dann den Arm geschwenkt hatte. Auf und ab. Und die Nervenbahn nachgefahren. Und welche Muskelgruppen das betraf. Und dass man das unter der älteren Haut dieser Person gut sehen könnte. Weil die Haut kaum noch ein Unterhautfett besäße, würden die Strukturen darunter sichtbarer. Skin. Older tissue. Tired looking. Sagging. Der Ton. Es klang. Die Frau hatte einen vorwurfsvollen Ton. Das waren die Leute, die dann immer sagten, dass sie ja nur sachlich seien. Sachlich geblieben wären. Wie der Orthopäde. Dem den Schwindelanfall zu erklären. Und er ihr geantwortet hatte, sie glaube also, dass sie Drehschwindel habe. In demselben vorwurfsvollen Ton. Wie diese Alte da. Und sie ihn doch gehabt hatte. Den Schwindelanfall. Und nichts glauben musste. Er zuerst ihre Erfahrung in Frage gestellt und dann sie ersucht hatte, sachlich zu bleiben. »Frau Dr. Brechthold. Bleiben wir bitte sachlich.« Weil sie gesagt hatte, dass sie sich von ihrem Arzt nicht in Frage gestellt sehen wollte. Hinter ihr hörte sie die Bewegungen der Zeichnenden. Geräusche. Miss Greenwood ging herum. Sagte etwas. Sie bemühte sich, ihre Haltung nicht zu verändern. Jemand fragte, warum es keine Musik gäbe. Heute. Miss Greenwood sagte, dass das gut sei. Musik beeinflusse ohnehin zu sehr. Alle hörten ohnehin viel zu viel Musik. Jeder Zeichenstrich würde von der Musik gefärbt werden. Sie sollten sich alle lieber konzentrieren und ihren eigenen Geräuschen zuhören. Sie sollten lieber sich selber belauschen. »Listen in on yourselves.« Was für einen Rhythmus ihre Zeichengeräusche ergäben. Die Geräusche des Zeichnens müssten die gezeichnete Figur ebenso wiedergeben. Sie jedenfalls. Sie könne hören, ob eine Zeichnung auf einem guten Weg wäre. Und letzten Endes ginge es sogar um die Schönheit der Bewegung des Zeichners. Eine gekonnte Bewegung führe zu einem gekonnten Strich. Das wäre ihre Ästhetik. Können in Schönheit ergäbe Schönheit. Deshalb wäre es wichtig, an der Staffelei gerade zu stehen. Frei zu stehen. Atmen zu können. »With an uncluttered mind.« Ein schöner Geist lasse sich nicht beschweren. Lasse sich nicht ablenken. Sie könne die Probleme der Zeichnenden immer schon von der Ferne sehen. Sie bräuchte keine Psychoanalyse. Schon wie

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