Entfernung.
Stufen heruntergesprungen. Begrüßten den fettsüchtigen Jesus. Die Männer sprachen ihn mit »your holiness« an. Selma sah den Mann genauer an. Er konnte ein Priester sein. Er hatte diese Handbewegungen. Diese Haltung. Fromm. Das war eine Frommheit. Als gehorchte er Prinzipien außerhalb von sich. Und das legte um jede Bewegung diese Weichheit. Als würde jeder Muskel seine Befehle von anderswo bekommen. Als würden die Muskeln für ihn bewegt werden. Es war nur nicht so einfach für ihn. Sonst wäre er nicht so fett. Sonst hätte er ein außergewöhnlich attraktiver Mann sein können. Aber schlank. Wie sollte einer als Jesusdouble herumlaufen. War er in das Fett ausgewichen. Hatte er seine Demut so erwiesen. Indem er sich aus der Ähnlichkeit mit seinem Sohn Gottes ins Fett davongestohlen hatte. Fettzelle um Fettzelle. Jede Fettzelle eine Geste der Demut. Selma trank das Bier aus und stellte die Flasche auf das Tischchen. Sie wollte eine Zigarette. Sie brauchte eine Zigarette. Niemand rauchte hier. Sie sah niemanden rauchen. Sie überlegte, wie sie fragen sollte. Wie sie nach einer Zigarette fragte. Ihr Englisch ihr wieder weit weg. Das Gefühl in ihrem ganzen Körper. Dieses Wünschen, den Geruch und die Hitze in sich zu ziehen. Und sich ausbreiten lassen. Im ersten Ausatmen schon die Gewissheit. Das Nikotin überall hingekommen. Angekommen. Und der Friede davon. Den Frieden über sich ausgebreitet. In sich ausgespannt. Und wenn sie jetzt nicht eine Zigarette fand. Sie sah sich aus Unruhe zerplatzen. Sie sah sich in viele kleine Teile auseinander brechen und auf den Boden fallen und in kleine schwarze Käfer verwandelt davonkriechen. Sie stand auf. Ließ die Tasche stehen. Ging an die Bar. Hielt ihre Flasche hin. Sie lehnte sich an die Bar. Stützte sich an der Nirostawanne auf. Fühlte das kalte Metall gegen die Ellbogen. Ob sie noch ein Bier wolle, »Thelma«, fragte der Mann. Wie er denn heiße, fragte Selma. »How do I call you.« Oh. Er entschuldige sich. Der Mann beugte sich über die Bar ihr zu. Das wäre sehr unhöflich gewesen. Sich nicht vorzustellen. Sie müsse das verzeihen. Der Mann sah ihr von unten ins Gesicht. Er sah sie ernst an. Meinte die Entschuldigung ernst. Selma wurde unbehaglich. Sie wollte sagen, dass das alles nicht so wichtig wäre und dass sie eigentlich eine Zigarette bräuchte. Sie sah dem Mann ins Gesicht. Sah ernst zurück. Sie bemühte sich, die Unruhe. Das Verlangen tief in sich zurückzuhalten. Nicht preiszugeben. Nicht diesem ernsten Blick auszusetzen. Er heiße Sebastian. Er senkte die Wimpern. Einen Augenblick hielt er den Kopf wie in der Filmszene. Vor ihr. So knapp vor ihr. Er war noch schöner. Der Schatten der Wimpern dunkler. Die Wangen bleich und eine kleine hektische Röte. Oben. Auf den Wangenknochen. Der Mund im Dreieck nach unten scharf gezeichnet. Das ganze Gesicht in eine Müdigkeit gespannt. Leiderfüllt. »Sebastian.« Selma musste den Namen laut nachsagen, um die deutsche Bedeutung herauszufinden. »Ach.« sagte sie. Aber das wäre ein sehr schöner Name. Und bedeutsam. »A telling name.« Der Mann sah auf die Nirostaoberfläche. Fuhr mit dem Zeigefinger einen Kratzer entlang. Dann richtete er sich auf. Hievte sich auf. Hob seinen schweren Leib und stand hinter der Theke. Selma sah ihn an. Er lächelte. Dann fuhr er mit dem Finger in sein Collar unter dem Rollkragen. Ja. Dieser Name habe ihn wohl in seine Berufung getrieben. »Pushed me into my vocation.« Selma konnte alle Sebastiane von den Säulen und Bildstöcken steigen sehen und diesen Mann umzingeln. Bis er ins Priesterseminar. »Catholic.« fragte sie. Der Mann nickte. »A papist. Yes.« Und ob sie noch ein Bier wolle. Aber es würde bald losgehen. Selma stellte die Flasche ab. Nein. Nein. Sie wolle nur die Flasche abstellen. Und ob er das hier. Ob das seine Initiative wäre. Nein, antwortete der Mann. Von oben kamen Menschen. Selma hörte sie die Stufen herunterkommen. Reden. Eine junge Frau kam an die Bar. Ob alles in Ordnung sei. Sebastian wandte sich ihr zu. Selma ging zu ihrem Tischchen zurück. Es war Zeit für den Rückzug. Der Wunsch nach einer Zigarette war nicht mehr so dringend. Sie konnte jemanden auf der Straße ansprechen. Eine von diesen Personen vor einem Pub. Raucher halfen einander. Und wenn sie zugab. Wenn sie erzählte, dass sie seit fast einem Jahr nicht mehr geraucht habe. Dass sie seit fast einem Jahr keine Zigarette angerührt hätte. Dass sie es aber nun. Dass es nun
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